Süddeutsche Zeitung

Türkei:Wie Erdoğan reagieren könnte, wenn er verliert

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Der türkische Präsident liegt in den Umfragen knapp zurück, eine Niederlage am Sonntag ist realistisch. Könnte er sich seiner Abwahl widersetzen? Wie Erdoğan früher reagiert hat, wenn das Volk ihm nicht folgte - und was diesmal anders ist.

Von Raphael Geiger, Istanbul

Recep Tayyip Erdoğan musste sein Leben lang ein einfallsreicher Mensch sein, anders hätte er es nicht nach oben geschafft. Er musste clever sein, um die alten türkischen Eliten zu entmachten, die sich ihm, dem Anführer der Frommen, in den Weg stellten. Jetzt, in den letzten Tagen vor den Wahlen, braucht Erdoğan einen neuen Plan. Er muss sich auf das Szenario einer Niederlage einstellen. Kein Zweifel, dass er, der gern vorbereitet ist, darüber nachdenkt: Wie geht das eigentlich, verlieren?

Erdoğan ist nicht nur der erste direkt vom Volk gewählte Präsident. Sollte er am Sonntag unterliegen, wäre er auch der erste, den das Volk abwählt. Die Türkei hat keine Erfahrung mit einem solchen Fall, der letzte Machtwechsel liegt zwei Jahrzehnte zurück, das war lange vor dem Präsidialsystem. Erdoğan wurde damals erst Premierminister. Die Macht war bei Weitem nicht so groß und auf ihn zugeschnitten wie heute. Wie also wird Erdoğan in der Nacht zu Montag reagieren, falls sich abzeichnet, dass sein Herausforderer gewinnt, Kemal Kılıçdaroğlu?

Erdoğans bisherige Antwort auf Niederlagen: Neuwahlen

Ein paar Hinweise gibt es. Im Frühjahr 2015 zum Beispiel verlor Erdoğan zwar nicht persönlich, er war bereits Präsident. Aber seine Partei, die AKP, gewann bei der Parlamentswahl erstmals nicht die absolute Mehrheit. Der damalige Premierminister Ahmet Davutoğlu versuchte, eine Koalition zu bilden. Davon hielt Erdoğan erkennbar nichts. Seine Antwort: Neuwahlen im Herbst. Er ging auf Kriegskurs im kurdischen Südosten, das Land erlebte Gewalt, auch Anschläge, und die Menschen versammelten sich bei den Neuwahlen noch einmal hinter dem starken Mann Erdoğan. Das Volk hatte, wie der Präsident es damals ausdrückte, "seinen Fehler korrigiert".

Neuwahlen, das war auch seine Antwort, als der AKP 2019 bei den Kommunalwahlen das wichtige Rathaus von Istanbul abhandenkam. Die Wahlbehörde fügte sich dem Präsidentenpalast und ließ den Sieg des Oppositionskandidaten annullieren. Die Istanbuler allerdings fügten sich diesmal nicht und wählten Ekrem İmamoğlu beim zweiten Mal mit noch größerer Mehrheit. Dagegen konnte Erdoğan nichts mehr unternehmen. Nur eins: Er ließ İmamoğlu vergangenes Jahr in einem politischen Verfahren verurteilen. Zu Politikverbot. Sollte das Urteil bestätigt werden, wäre İmamoğlu nicht nur sein Amt los. Das Kommunalparlament von Istanbul würde seinen Nachfolger wählen, und dort hat Erdoğans AKP immer noch die Mehrheit.

Was das über die Wahlen am Sonntag sagt? Dass Erdoğan nicht viele Optionen bleiben, sollte er wirklich verlieren. In der Vergangenheit konnte er Niederlagen in Siege umkehren, weil ihm politische Optionen blieben, Kriege beispielsweise. Und, wichtiger noch, weil die Institutionen des Staates ihm ergeben waren. Sollte Erdoğan nun den Sieg seines Gegners Kılıçdaroğlu anzweifeln, müsste er sich darauf verlassen können, dass ihm die Wahlbehörde folgt und Neuwahlen ansetzt.

Genau das ist fraglich. Die Beamten lassen jüngst erkennen, dass die Zeit, in der sie allein Erdoğans Willen umsetzten, vorbei ist. Kürzlich verweigerten sie sich der Bitte des Innenministeriums, die Auszählung der Wahlen überwachen zu dürfen. Ein anderes Staatsorgan, das Verfassungsgericht, entschied, dass die prokurdische HDP, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, auf ihre staatlichen Zuschüsse zugreifen darf. Auch dies war eine klare Entscheidung gegen den Willen der Regierung.

Sein Problem: Diesmal geht es um ihn persönlich

Erdoğans Problem im Fall einer Niederlage ist: Diesmal geht es um ihn persönlich. Beamte oder Richter wüssten, dass er bald nicht mehr an der Macht ist - sondern sein Gegner. Sie könnten sich widersetzen und müssten dafür nicht mehr die Rache aus dem Palast fürchten.

Recep Tayyip Erdoğan also muss die Wahl gewinnen, um an der Macht zu bleiben - das unterscheidet die Türkei von anderen Autokratien. Dafür wirft er mit Wahlgeschenken um sich, gerade diese Woche zum Beispiel eine Mindestlohnerhöhung im öffentlichen Dienst: plus 45 Prozent. Aber könnte er so einfach gehen? Müsste er nicht Prozesse fürchten, wegen der Korruption, die ihm die Opposition vorwirft?

Für diesen Fall hat sich Erdoğan abgesichert. Im Parlament bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit, um ihn als Ex-Präsidenten vor Gericht zu stellen. Für seinen Apparat, die Funktionäre und die von Staatsaufträgen bei Laune gehaltenen Konzerne würde eine Wahlniederlage weniger glimpflich ausgehen. Sie würde sie mindestens die Existenz kosten, manche müssten zudem die Justiz fürchten.

Wie wird Erdoğan sich verhalten? Niemand weiß, was er plant. Theoretisch könnte er gehen, wenn er verliert. Er müsste es nur akzeptieren. Und dann, in einem Akt staatsmännischer Verantwortung, auch seine Anhänger davon überzeugen. Damit sie friedlich bleiben, während die Macht den Besitzer wechselt. In der Nacht zu Montag wird es darauf ankommen, was Recep Tayyip Erdoğan sagt.

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