Süddeutsche Zeitung

Türkei:Erdoğans Herrschaftsanspruch

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"Wir werden nicht stoppen": Der Präsident will nach der Offensive in Syrien große Teile des Landes kontrollieren. Die internationale Kritik wird lauter, auch aus Furcht vor einem Erstarken der IS-Terrormiliz.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Die Türkei lehnt eine Beendigung ihrer Militäroffensive in Nordsyrien trotz der breiten internationalen Kritik ab. Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte am Sonntag, "wir werden nicht stoppen", egal wer auch immer das verlange. In der regierungsnahen Zeitung Sabah konnte man lesen, was ein "Sieg" für Ankara bedeuten würde: "Die Türkei wird große Bereiche Syriens kontrollieren." Das werde Ankaras Einfluss auch im östlichen Mittelmeerraum und am Golf "auf die nächste Stufe" heben, schrieb Burhanettin Duran, Chef des regierungsnahen Thinktanks Seta.

Der britische Premier Boris Johnson forderte Erdoğan in einem Telefonat am Samstagabend auf, die Kämpfe zu beenden, Kanzlerin Angela Merkel tat dies am Sonntag, ebenfalls am Telefon. Er höre nur immer "nein, nein", sagte Erdoğan danach bei einem Auftritt in Istanbul, auf Deutsch. US-Präsident Donald Trump riet dagegen der kurdischen YPG-Miliz zum Rückzug aus der Grenzregion. Sie habe keine Chance gegen die türkische Luftwaffe, sagte er. Trump drohte der Türkei zudem mit "sehr schnellen, starken und harten Wirtschaftssanktionen", sollte sie "ihre Verpflichtungen" nicht einhalten. Dazu zählte er den Schutz religiöser Minderheiten sowie die Überwachung von IS-Häftlingen.

Hunderte Anhänger der Terrormiliz IS sollen bereits aus einem Gefangenenlager geflohen sein. Nachdem türkische Streitkräfte das Lager Ain Issa in der Nähe der Stadt Tel Abjad beschossen hätten, seien fast 800 ausländische IS-Sympathisanten geflohen, teilten kurdische Behörden mit. In dem Lager leben auch mehrere Tausend Familienangehörige von IS-Kämpfern.

Im Fokus der erbitterten Kämpfe standen am Sonntag vor allem die Grenzstädte Ras al-Ain und Tel Abjad. Die von der Kurdenmiliz YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) hätten die meisten Stadtteile von Ras al-Ain nach einem Gegenangriff zurückerobert, teilte die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Erdoğan sagte dagegen, das Zentrum der Stadt sei unter türkischer Kontrolle. Der TV-Sender CNN Türk berichtete, türkische Truppen suchten dort nach Verstecken kurdischer Kämpfer. Kurz danach meldete der Sender, auch das Zentrum von Tel Abjad sei unter türkischer Kontrolle. Rauchwolken, die über der Stadt aufstiegen, waren schon am Morgen vom türkischen Akçakale aus zu sehen.

Erdoğan lehnte alle Vermittlungsversuche ab. "Wir werden uns nicht mit Terroristen an einen Tisch setzen", sagte er bei dem Auftritt in Istanbul. Die Militäroperation richte sich "nicht gegen die Kurden", sondern nur gegen einen "Terrorstaat" in Nordsyrien, so Erdoğan. Wer anderes behaupte, betreibe "Propaganda". Unter den syrischen Flüchtlingen in der Türkei seien auch 400 000 Kurden, sie seien "die größten Unterstützer" der Offensive. Erdoğan sagte, es seien bereits 440 YPG-Kämpfer getötet worden, 24 hätten sich ergeben.

Auch eine bekannte kurdische Politikerin und Frauenrechtlerin soll unter den Toten sein. Havrin Khalaf sei am Samstag auf einer Landstraße in einen Hinterhalt geraten, teilten die SDF mit. Von türkischer Seite gab es keine offizielle Bestätigung. Die regierungsnahe Zeitung Yeni Safak meldete aber unter Berufung auf Quellen vor Ort, Khalaf sei bei einem Luftschlag auf dem Weg von Raqqa nach Qamischlo getötet worden. Im Internet kursieren Fotos eines schwer beschädigten Autos, mit dem Khalaf unterwegs gewesen sein soll. Zudem tauchte ein Video auf, das zeigen soll, wie mit der Türkei verbündete Milizen mindestens einen kurdischen Gefangenen hinrichten. Unabhängig bestätigen ließ sich die Echtheit des Videos nicht.

In Ras al-Ain soll am Sonntagabend auch ein Konvoi mit Zivilisten bei einem Luftangriff getroffen worden sein, berichteten die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte und die SDF. Es soll neun Tote, darunter fünf Zivilisten gegeben haben. Auch davon wurde ein Video verbreitet, dessen Authentizität ungeklärt blieb.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass mehr als 130 000 Menschen bereits auf der Flucht sind

Wie schon zuvor - die Offensive hatte am Mittwoch begonnen - schlugen auch auf der türkischen Seite der Grenze Mörsergranaten ein. Die Zahl der Toten erhöhte sich hier auf 18, darunter mehrere Kinder. Das türkische Fernsehen zeigte Bilder von Beerdigungen, auch von Soldaten, an denen auch Politiker der Opposition teilnahmen. Die Unterstützung der Offensive durch die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, wird - wie der gesamte Krieg - nur von wenigen offen kritisiert. Das Webportal Duvar gehört dazu. Hier schreibt der Journalist Aydın Selcen, CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu fehle eine "Zukunftsvision von einer demokratischen Republik". Journalisten und Nutzer sozialer Medien wissen, dass sie mit ihrer Kritik in den Focus der Justiz geraten können. Die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul hat bereits entsprechende Schritte angedroht.

Unerwartet deutlich hat sich ein Politiker geäußert, der Präsident von Nordzypern, Mustafa Akıncı. Er erinnerte daran, dass die türkische Militärintervention in Zypern 1974 auch "Friedensoperation" genannt wurde, die jetzige heißt "Friedensquelle", und doch würden wieder "Blut, nicht Wasser" fließen. Akıncı wurde dafür vom türkischen Vizepräsidenten Fuat Oktay scharf gerügt. Das nur von Ankara anerkannte Nordzypern ist finanziell vollkommen von der Türkei abhängig.

Die UN schätzen, dass mehr als 130 000 Menschen aus den Gebieten um Ras al-Ain und Tel Abjad auf der Flucht sind. Bis zu 400 000 Menschen in den umkämpften Regionen benötigten Hilfe und Schutz, teilte die UN-Behörde für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten mit.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2019
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