Süddeutsche Zeitung

Syrien:Schüsse auf Trauernde - Razzien in der Nacht

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Sie beweinten ihre Freunde, die beim Karfreitags-Massaker gestorben waren - da feuerten die Heckenschützen: Oppositionelle in Syrien beklagen brutale Übergriffe. Die Geheimpolizei soll Aktivisten verhaftet haben. Wie verzweifelt ist Assads Regime?

Der Machtkampf in Syrien ist voll entbrannt. Die Welt protestiert gegen das "Karfreitags-Massaker" in Syrien - doch das Regime von Baschar al-Assad setzt auf volle Härte. Der Staatschef ließ laut Menschenrechtlern auf Trauerzüge für die Opfer vom Freitag feuern, und in der Nacht nahm die Geheimpolizei nach Angaben von Bürgerrechtlern zahlreiche Aktivisten fest.

Bei den nächtlichen Razzien seien die Staatsschützer in zivil gekleidet und mit Sturmgewehren bewaffnet gewesen, sagten Menschenrechtler den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP. Dutzende seien festgenommen worden. Eine unabhängige Bestätigung der Angaben war zunächst nicht möglich.

Bei den Schussangriffen auf Trauernde kamen mindestens sechs Menschen ums Leben. Ein Augenzeuge und ein Menschenrechtsaktivist sagten der Nachrichtenagentur AFP am Telefon, dass Bewaffnete in Duma nahe der Hauptstadt Damaskus mindestens drei Menschen töteten. Die Schüsse seien während einer Beisetzung gefallen. Die Heckenschützen hätten von Dächern auf die Trauergäste gezielt, als sich diese von einer Moschee zum Friedhof bewegten. Drei weitere Menschen wurden nach Angaben eines anderen Aktivisten von Sicherheitskräften im südsyrischen Israa erschossen, als sie auf dem Weg zu Beerdigungen waren. Israa liegt nahe Daraa, dem Zentrum der Protestbewegung.

Die Zahl der Opfer am Freitag und am Samstag ist nach Angaben einer syrischen Menschenrechtsorganisation damit auf 120 gestiegen. Allerdings ist die Lage weiter unklar - die Berichte aus dem Land können nicht unabhängig bestätigt werden, weil die syrische Regierung Journalisten ausgewiesen und den Zugang zu Unruhegebieten stark eingeschränkt hat. Menschenrechtsgruppen, darunter die Nationale Organisation für Menschenrechte in Syrien, forderten die Regierung auf, einen Ermittlungsausschuss der Justiz einzusetzen, um die für die Schüsse Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem müssten alle politischen Gefangenen freigelassen werden.

"Baschar, Du Feigling"

"Das Volk will den Sturz des Regimes", riefen den Zeugen zufolge die Demonstranten in Damaskus. Andere skandierten: "Baschar, du Feigling, schick Deine Soldaten zum Golan", der seit fast 50 Jahren die ruhige Grenze nach Israel bildet. Am Freitag hatte die Opposition in einer Resolution ein Ende des Machtmonopols der Baath-Partei, ein demokratisches System und die Freilassung politischer Gefangener gefordert und damit Assad direkt herausgefordert. "Das ist wie ein Schneeball, der von Woche zu Woche größer wird", sagte ein Oppositioneller. "Der Zorn nimmt zu, die Straße brodelt."

Aus Protest gegen die Gewalt gegen Demonstranten haben die ersten zwei Parlamentsabgeordneten ihren Rücktritt verkündet. Die aus Daraa stammenden Abgeordneten Chalil el-Rifai und Nasser el-Hariri gaben ihren Schritt im arabischen Nachrichtensender al-Dschasira bekannt. Er könne nicht mehr die Menschen schützen, die ihn gewählt hätten, sagte Rifai. Ähnlich äußerte sich auch Hariri. Staatschef Assad müsse "umgehend eingreifen"

Westerwelle fordert juristische Untersuchung

International wurde das brutale Vorgehen des syrischen Sicherheitsapparats verurteilt. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte ein sofortiges Ende der "anhaltenden Gewalt gegen friedliche Demonstranten". Nach Angaben eines Sprechers ermahnte er die syrischen Behörden zugleich, die Menschenrechte zu achten, und forderte eine unabhängige Untersuchung der tödlichen Schüsse.

Die Europäische Union verurteilte die Gewalt scharf. Das Vorgehen gegen Regierungsgegner sei "entsetzlich und nicht zu tolerieren", erklärte EU-Außenministerin Catherine Ashton. Sie rief die syrische Regierung zu grundlegenden politischen Reformen auf. Diese müssten rasch beginnen und einem konkreten Zeitplan folgen.

Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle kritisierte die syrische Führung: "Die erneute Gewalt gegen friedliche Demonstranten in Syrien ist inakzeptabel. Sie wird von der Bundesregierung auf das Schärfste verurteilt", sagte er. Die Vorgänge vom Freitag müssten "genau untersucht und juristisch aufgearbeitet" werden.

Regime weist Schuld von sich

Die syrische Führung verbat sich jedoch jegliche Kritik aus dem Ausland. Ein Regierungsvertreter sagte der staatlichen Nachrichtenagentur Sana, Obama habe die Lage im Land nicht auf Grundlage "objektiver Fakten" beurteilt. Obama hatte gefordert, der "ungeheuerliche Einsatz von Gewalt" müsse sofort beendet werden. Die Aufhebung des jahrzehntelangen Ausnahmezustandes in Syrien und die Ankündigung der Regierung, friedliche Demonstrationen zulassen zu wollen, seien angesichts der brutalen Unterdrückung der Proteste nicht glaubhaft.

Das Regime behauptet, es habe mit den tödlichen Schüssen nichts zu tun: Staatliche Medien bezeichneten die Heckenschützen als "unidentifizierte Bewaffnete". Etliche davon seien von den Sicherheitskräften festgenommen worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Sana.

Nach Einschätzung der Aktivisten sind die Heckenschützen aber Teil des mächtigen Geheimdienstes. Im Polizei- und Geheimdienst-Staat Syrien sei es unvorstellbar, dass sich Bewaffnete in einer derartigen Zahl und Koordinierung auf den Hausdächern in den Zentren der wichtigsten Städte einrichten können.

Demonstranten radikalisieren sich

Syrische Oppositionskräfte hatten die Aufhebung des Ausnahmezustands vom Donnerstag und andere Reformmaßnahmen Assads zunächst vorsichtig begrüßt. "Es ist ein positiver Schritt, dessen Umsetzung aber genau zu beobachten ist", sagte der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London, Rami Abdul Rahman, am Donnerstag. Tatsächlich kam der syrische Staatschef mit der Aufhebung des Ausnahmezustands einer zentralen Forderung der Demonstranten entgegen.

Die kriegsrechtsähnliche Gesetzgebung hatte es dem Regime unter Assad und zuvor unter seinem Vater Hafis ermöglicht, Bürger willkürlich zu verhaften und jede politische Opposition mit behördlichen und geheimdienstlichen Mitteln zu verfolgen. Vor den nunmehr abgeschafften Staatssicherheitsgerichten hatten die Angeklagten nur sehr eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeiten. Zudem wurden ihnen in der Polizei- und Geheimdiensthaft, die diesen Prozessen vorausging, häufig Geständnisse unter Folter abgepresst.

Doch wie die Eskalation der Gewalt am Freitag zeigte, dürften die neuen Maßnahmen des Präsidenten zu spät gekommen sein. Denn die Gewalt der Sicherheitskräfte, der seit Beginn der Proteste nun schon etwa 300 Menschen zum Opfer fielen, hat die Demonstranten radikalisiert. Verlangten die Proteste bislang nur echte Reformen und Freiheiten, so dominierten am Freitag bereits die Forderungen nach dem Rücktritt Assads und nach einem Regimewechsel.

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