Süddeutsche Zeitung

Reportage: Indien nach dem Terror:Die Narben von Mumbai

Lesezeit: 6 min

Ein Jahr danach: Noch immer ist die indische Metropole gezeichnet von den Terroranschlägen. Die Leute erinnern sich ungern - aus Trotz, Scham oder Angst.

Oliver Das Gupta, Mumbai

Das große Morden beginnt mit Verspätung. Zehn Minuten, vielleicht auch 15, stehen die jungen Männer vor dem Leopold Café herum. Farhang Jehani, der Betreiber des Lokals, sieht sie durch die stets weit geöffneten Türen.

Er wundert sich. Warum kommen sie nicht rein? Mit ihren Rucksäcken wirken sie auf ihn wie die Mehrzahl seiner Gäste: Backpacker aus aller Welt und junge Inder, die es sich bei Bier und Beefsteak gutgehen lassen wollen. Doch die Männer Anfang 20 sind nicht zum Essen gekommen. Aber das ahnt Jehani nicht.

Jehani will telefonieren. Auch an diesem Abend ist das Café vollbesetzt, laut und lärmig. Er tritt auf den Gehsteig mit dem Handy am Ohr. Nun steht Jehani neben den Männern, die in wenigen Minuten sein Lokal verwüsten werden. Ihre Blicke treffen sich.

Die Männer warten auch auf einen Anruf.

21:15 Uhr: Befehl zum Losschlagen

Jehani beendet sein Gespräch, nun hat er es eilig: Im Fernsehen wird das Ende eines spannenden Kricket-Spiels übertragen, das will er nicht verpassen. Er geht zurück ins Café und steigt die Treppe in den ersten Stock hoch.

Es ist 21:15 Uhr, und die Männer vor der Tür erhalten ihren Anruf: Es ist der Befehl zum Losschlagen. Sie öffnen ihre Rucksäcke, nehmen Handgranaten heraus und schleudern sie ins Lokal. Sie ziehen ihre Sturmgewehre und feuern auf jeden, der sich im Leopold befindet.

Der Überfall auf das Café ist der Auftakt zu einer Reihe islamistischer Terroranschläge, die Mumbai am 26. November 2008 und in den Folgetagen erschüttern. Ein zehnköpfiges Terrorkommando war aus Pakistan per Schnellboot in die indische Finanz- und Wirtschaftsmetropole gekommen, um in Luxushotels, im Hauptbahnhof Chhatrapati Shivaji Terminus, einer Frauenklinik, einer jüdischen Einrichtung und im Leopold Café zu morden.

Mumbai, der Millionen-Moloch, war schon oft Schauplatz brutalster Gewaltausbrüche. So rissen 1993 mehr als ein Dutzend Bomben 257 Menschen in den Tod. 2006 detonierten sieben Sprengsätze in Vorortzügen, die furchtbare Bilanz: 209 Tote und mehr als 700 Verletzte.

Dennoch gilt die Terroraktion von vor einem Jahr mit ihren 173 Todesopfern als besonders. Das liegt nicht nur daran, dass 26 Ausländer starben. Vor allem der 60 Stunden währende Kampf um das luxuriöse Taj-Mahal-Hotel, in dem schon die Queen und diverse US-Präsidenten residierten und der Beatle George Harrison auf dem Sitar zu spielen lernte, hat die Millarden-Nation traumatisiert. Die Attacke gilt den Indern als ihr "11. September", wer von "26/11" spricht, wird sofort verstanden.

Das "Taj", vor mehr als 100 Jahren vom Industriellen Jamsetji Tata erdacht und erbaut, wurde nicht ohne Grund nach dem berühmten Grabmal in Agra benannt. Damals, Indern der Zutritt in die feinen Hotels und Clubs untersagt war, schuf der Unternehmer ein Gebäude, das Seinesgleichen sucht.

Für Indien war das Taj ein Beweis des nationalen Stolzes, bevor es eine Nation gab, eine Symbiose aus europäischer und indischer Pracht, ein steinernes Symbol der Versöhnung mit der britischen Kolonialzeit. Nun ist es ein Zeichen dafür, wie fragil das alles ist.

Das Luxushotel liegt nur wenige Gehminuten vom Leopold Café entfernt. In diesen Tagen ist das Taj darauf erpicht, möglichst wenig über den ersten Jahrestag zu sprechen - und möglichst viel Positives zu berichten.

Für diesen Job wurde wohl Nikila Palat engagiert, seit ein paar Monaten Public Relations Managerin des Hotels. Im schwarzen Hosenanzug schreitet sie durch den alten Flügel des Hotels, in dem die Terroristen wüteten, sie nennt ihn "Palace".

In einem türkisgehaltenen Salon, der "Sea Lounge", bittet Mrs. Palat zu Tisch. Sie lässt Tee und Shortbread servieren, das italienisch anmutet. Ein paar bleiche Briten essen Sandwich, und ein Pianist klimpert vergeblich gegen eine lärmende Gruppe von indischen Frauen und den Baulärm im Hintergrund an.

"Hat man nicht einen wunderbaren Blick auf das Meer, auf das Gateway of India?", fragt Palat mit tiefer Stimme. Auch in der Lounge sei einiges beschädigt gewesen, aber nun sei alles ausgetauscht, von den Möbeln bis zur Wandfarbe. Nein, leider könne man keinen Blick in den Bereich werfen, der noch renoviert wird. Aber die Gerüste von außen könne man fotografieren.

Der Lärm steigert sich, nun scheppert eine Bohrmaschine, ein reicher junger Sikh mit Turban liest ungerührt Zeitung. "Sehen Sie", sagt Palat, "die Gäste sind happy."

"Ein ganz normaler Tag"

Frau Palat sagt gerne "happy". Oder auch "very happy", "very proud" und "perfect". Über den Anschlag will sie eigentlich nicht mehr viel reden. Sie sagt dann Sätze wie: "Unglücklicherweise verloren wir 31 Helden während des Vorfalles" und "Unter jedem Kissen finden sich 1000 wunderbare Erinnerungen. Die schönen Momente im Taj überstrahlen jede Art von Tragödie, die möglicherweise passieren könnte".

Das traurige Jubiläum wird im Taj nicht begangen, das Memorial im Eingangsbereich reicht. "Der 26.11. ist für uns ein ganz normaler Tag", beteuert Frau Palat, und: "Alles ist sicher." Am selben Tag bricht ein Erker am Gebäude ab.

Der Platz vor dem Hotel am Gateway ist von Touristen und Einheimischen bevölkert wie eh und je, auf der Straße vor dem Taj stehen zwei Panzerwagen und verschiedene Uniformierte. Ein zweites "26/11" soll es nicht geben, zumindest nicht hier.

Viele Inder haben sich während der Anschläge ob der Ohnmacht der Sicherheitskräfte geschämt, die in alle Welt übertragen wurde. Das dokumentierte Versagen brachte die Nation auf. Der Ruf nach Konsequenzen wurde bald laut und die Politik reagierte.

Drei Politiker mussten damals von ihren Ämtern zurücktreten, zwei davon waren Kabinettsmitglieder der Regierung des Bundesstaates Maharashtra, in dem Mumbai liegt.

Die Zentralregierung versprach immerhin, eine Antiterroreinheit zu bilden. Eine Bundesbehörde nach dem Vorbild des amerikanischen FBI wurde ins Leben gerufen.

Von den Projekten ist bisher noch nicht viel vollständig umgesetzt worden, allerdings nahm die Politik eine Schadensbegrenzung der besonderen Art vor: Unlängst nahm auch der zweite der beiden geschassten Landespolitiker wieder im Kabinett von Maharaschtra Platz: Der ehemalige Innenminister kehrte zurück - in sein altes Amt.

"Niemand wird mehr bei uns einkehren"

Die indische Presse kritisiert das, doch die Posse geht ohnehin in der Flut der Artikel und Sendungen zum ersten Jahrestag unter: Wie geht es dem Hund, der einen Querschläger der Attacke abbekommen hatte? Ist der US-Islamist David Hadley in den Mumbaier Terror-Plot verstrickt? Warum hatte er Kontakt zu Bollywood-Stars? Was müssen Sie tun, wenn Sie Fremden ein Zimmer vermieten und sichergehen wollen, dass es kein Terrorist ist - Indiens Medien ziehen so viel es geht aus dem Thema, täglich gibt es etwas Neues zu "26/11".

Der Mumbai Mirror prangerte in diesen Tagen auf der Titelseite an, dass die Familie eines Terroropfers noch nicht entschädigt wurde, so wie es versprochen war. Dazu druckte das Blatt ein Foto des schnauzbärtigen Buchhändlers ab, wie er von der tödlichen Kugel getroffen zu Boden sinkt.

Die Aufnahme hat Sebastian D'Souza gemacht, ein Fotograf des Mirror. Sein Name ist so unindisch, weil er seine Wurzeln in Goa hat, das war noch portugiesische Kolonie, als er zur Welt kam. Er hat sich an der Kamera alles selbst beigebracht, sagt er. Früher habe er für AFP gearbeitet, aber die hätten ihn nicht gut behandelt. Dann ging er zum Mirror, einem Boulevardblatt im Tabloid-Format, in dem sich Anzeigen für Brustverkleinerung bei Männern finden und Artikel über einen Tempel-Priester, der sein Stelldichein mit dem Handy filmte.

Das Redaktionsgebäude des Mirrors trennt nur eine vierspurige Straße vom Chhatrapati Shivaji Terminus. Und so wurde D'Souza Zeuge des Anschlags auf den Mumbaier Zentralbahnhof. Von ihm stammen die Fotos von Opfern wie dem Buchhändler. Und die von dem waffenschwingenden Terroristen Kasab - die Aufnahme ging um die Welt.

Ängstliche Polizisten, veraltete Waffen

D'Souza schlendert über die Fußgängerbrücke von der Redaktion hinüber zum Terminus, unter ihm dröhnt der Verkehr. Er zeigt auf das Gebäude neben dem Zeitungshaus: "Hier ist die Polizei-Hauptwache", er dreht sich um, "dort ist der Bahnhof. Warum hat die Polizei damals 45 Minuten gebraucht, bis sie da war?"

Sebastian D'Souza klingt wütend, aber das ändert sich bei ihm von Satz zu Satz. Er hat Galgenhumor. Er witzelt darüber, wie ängstlich indische Polizisten wirklich seien und dass sie manchmal mehr Angst vor ihren eigenen veralteten Waffen hätten als vor Terroristen.

Durch den Bahnhof wälzen sich Menschen in Massen, in Schwarz verhüllte Muslima stehen beisammen, Schulkinder treffen ihre Eltern, dazwischen betteln ein paar Straßenkinder. Die Sicherheitsvorkehrungen sind der Rede nicht Wert: Die Menschen betreten den Bahnhof unkontrolliert, manche gehen durch die aufgestellten Metalldetektoren, manche daran vorbei. Die Detektoren blinken grün und rot, daneben sitzen zwei Polizistinnen und ein männlicher Kollege und langweilen sich.

"Das war genauso damals", sagt D'Souza. "Sehen Sie die Massen? Eine Kontrolle ist einfach unmöglich". Ob es wieder passieren kann? Die Mundwinkel des Fotografen zeigen nach unten: "Ja, sicher."

"Niemand wird mehr bei uns einkehren"

Zurück ins Leopold Café, wo sich Farhang Jehani an den 26. November 2008 erinnert. Er war im Obergeschoss und hörte nur ein Geräusch: "Tacktack, Tacktacktacktack." Glas birst, Tische und Stühle fallen um. Nach weniger als drei Minuten sind die Terroristen weg. Jehani steht im Erdgeschoss inmitten von Trümmern und blutüberströmten Körpern. Insgesamt sterben acht Menschen, mehr als 20 werden verletzt.

Jehanis Telefon klingelt, ein Freund fragt, ob es einen Bandenkrieg im Leopold gebe. Der Eigentümer befürchtet: Niemand wird mehr bei uns einkehren. Das ist das Ende des Lebenswerks meiner Familie.

Noch ein Anruf: Attacke auf das Taj Mahal, Schüsse im Chhatrapati Shivaji Terminus, Terroranschläge überall in der Stadt.

"Offen gesagt: Als ich das hörte, war ich sehr erleichtert", sagt Farhang Jehani heute. "Nun wusste ich, dass wir nicht alleine betroffen sind." Jehani trägt Glatze, ein schwarzes T-Shirt und eine Flecktarnhose, ein untypischer Chef. Er könnte selbst einer der Backpacker sein, die bei ihm einkehren.

Ein Jahr ist der Überfall nun her, und das Geschäft brummt hier mehr denn je - auch dank der blutigen Vergangenheit.

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