Süddeutsche Zeitung

Terrorverdacht:Leben in der prekären Normalität

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Europas Großstädte sind jetzt Kriegsschauplatz im Kampf mit der IS-Terrormiliz. Deutschland muss mit der Unsicherheit leben lernen, wie sie an Silvester in München herrschte.

Kommentar von Heribert Prantl

Womöglich: Dieses Wort steht am Beginn des Jahres 2016. Es kennzeichnet die Unsicherheit der Lage; es kennzeichnet eine prekäre Normalität. Womöglich waren die Hinweise auf einen Anschlag in München keine, wie das die Fachleute nennen, "wertigen Hinweise". Womöglich war nur das böse Grundrauschen der gewaltbereiten islamistischen Szene zum Jahreswechsel lauter als sonst. Womöglich war also die Vorsicht der bayerischen Behörden übertrieben.

Womöglich war diese Vorsicht aber auch sehr angemessen. Womöglich hat die Sperrung der Bahnhöfe Selbstmordattentate verhindert. Womöglich hat diese Entscheidung geplante Tatabläufe unmöglich gemacht. Womöglich: Das wird ein Paradigma der Zukunft bleiben.

Dunstglocke der Angst wäre gefährlich

Womöglich. Dieses Wort beschreibt die Last der Verantwortung eines Innenministers und die Bürde der Abwägung, die in kürzester Zeit zu treffen ist. Es ist dies eine Zeit, in der es nicht gilt, sich politisch zu produzieren und den starken Mann zu mimen, sondern klug zu handeln. Es ist dies eine polizeiliche Entscheidung, keine politische.

Die Stärke in so einer Situation ist eine stille Kraft. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hat in der Neujahrsnacht eine Entscheidung getroffen, wie sie Mitte November auch der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) getroffen hat. Der hat damals das Fußball-Länderspiel in Hannover kurz vor dem Beginn absagen und das Stadion räumen lassen.

Die Indizien für einen Gewaltakt stellten sich im Nachhinein als dünn heraus; einen Grund, die Entscheidung zu tadeln, gibt es trotzdem nicht. Konkrete Vorsicht ist gut. Aber eine Dunstglocke der Angst, die sich über ein Land stülpt, wäre gefährlich.

"Das Leben geht einfach weiter", sagt man oft nach Attentaten und Schicksalsschlägen. Nach den Verbrechen von Paris hieß es, das Leben müsse einfach weitergehen, weil man den Terroristen nicht das Terrain überlassen dürfte. Ganz so ist es nicht. Das Leben geht nicht "einfach" weiter; es geht schwieriger weiter, es ist belastet, beschwert und manchmal bedrückt.

Europäische Großstädte - jetzt Kriegsschauplatz

Der französische Präsident François Hollande hat nach den IS-Attentaten in Paris von "Krieg" gesprochen, den es jetzt zu führen gelte. Deutschland hat sich zur Kriegspartei erklärt und Jets geschickt. Die deutsche Regierungspolitik hat argumentiert, die Gefahr von Attentaten könne kein Argument sein gegen die militärische Solidarität mit Frankreich.

Der Satz ist schnell gesprochen, aber schwer auszuhalten. Man hat dem IS einen Gefallen getan, indem man ihn zum Kombattanten aufgewertet hat. Europäische Großstädte sind jetzt Kriegsschauplatz, und die Mittel des Krieges dort bestimmt der IS.

Es gibt besondere Gefahren der Gefahrenabwehr: Wenn sie Rechtsstaatlichkeit dezimiert, wird sie selbst zur Gefahr; in Israel kann man das studieren. Einerseits gewinnen die Menschen eine Art Routine der Angst, ohne die man nicht leben könnte. Andererseits können auch Maßnahmen des Ausnahmezustands zur Routine werden. Es wäre gruselig, wenn sich die deutsche Gesellschaft von islamistischen Gewalttätern in einen solchen Ausnahmezustand treiben ließe.

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Quelle:
SZ vom 02.01.2016
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