Süddeutsche Zeitung

Krawalle in Stuttgart:Deutsch bleibt deutsch, mit oder ohne M

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Wenn sich die Polizei bei den Ermittlungen in Stuttgart auf die ethnische Herkunft der Eltern von Tatverdächtigen konzentriert, dann ist das weder gerecht, noch verhindert es Kriminalität. Es schürt nur rassistische Vorurteile.

Kommentar von Jan Bielicki

Junge Menschen haben randaliert, Schaufenster zerschlagen, Polizisten angegriffen und verletzt. Wer sie sind und warum sie das getan haben? Das will man natürlich wissen nach den wiederholten nächtlichen Ausschreitungen in Stuttgarts Innenstadt. Ohne dieses Wissen lassen sich weder gerechte Urteile fällen noch Ansätze zu Prävention entwickeln. Und darum ist es natürlich Aufgabe von Ermittlungsbehörden, Motiv und Lebensumstände zu ermitteln, die einen möglichen Täter - deutlich seltener: eine mögliche Täterin - zur Tat gebracht haben. Vieles kann dabei eine Rolle spielen, gerade bei jungen Tatverdächtigen vor allem: Wie wuchsen sie auf? In einer Sozialwohnung im Hallschlag oder in einer Villa in Halbhöhenlage? Gab es daheim Liebe oder Haue, Unterstützung oder Vernachlässigung? Aus vielen Mosaiksteinchen ergibt sich ein Bild - und eines dieser Steinchen könnte möglicherweise auch die Herkunft der Eltern sein.

Aber eben nur möglicherweise und nur eines unter vielen. Auch wenn in Stuttgarts Gemeinderat der unsägliche Begriff von der "Stammbaumforschung" nicht fiel - die Debatte um die Folgen der Krawalle hatte sich leider schon vorher auf diesen einen Punkt verengt: Haben die Krawallos vom Eckensee etwas, was man hierzulande verdruckst Migrationshintergrund nennt? Hatten wohl etliche der Tatverdächtigen - nur: Diese Erkenntnis hilft eben kaum weiter. Fast jedem zweiten Stuttgarter, jedem viertem Einwohner Deutschlands lässt sich dieses M-Wort anhängen, er oder sie braucht dazu nur einen Elternteil, der nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist. Es sind Schüler, Studenten, Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose, Akademiker unter diesen 20 Millionen, und die Hälfte von ihnen hat einen deutschen Pass, von den jungen Leuten unter ihnen sind es sogar die meisten.

Ob Vater oder Mutter nun in Sarajevo oder in einem Ort mit der Endung -ingen geboren wurden, mag für den Einzelfall durchaus Bedeutung haben, kann Diskriminierungserfahrungen oder mangelnde Bildungsmöglichkeiten erklären, über die Lebensumstände von Tätern und Tätergruppen sagt es in den allermeisten Fällen jedoch erst einmal gar nichts. Eine Konzentration von Ermittlungen - und der Berichterstattung darüber - auf die ethnische Herkunft der Eltern dient darum weder Gerechtigkeit noch Prävention, sondern schürt allein rassistische Vorurteile.

Längst empfinden viele junge Deutsche, die damit belegt werden, das M-Wort als diskriminierend - zu Recht. Einst als Verlegenheitskrücke der Sozialforschung erfunden, ist es in weiten Teilen der politischen Debatte zum Kampfbegriff geworden. Es spaltet in Deutsche erster und solche zweiter Klasse. Nicht nur für Polizei und Politik, sondern für alle sollte gelten: Wer Deutscher ist auf dem Papier, ist Deutscher - ohne Wenn, Aber und M.

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Quelle:
SZ vom 14.07.2020
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