Süddeutsche Zeitung

Spicker in der Politik:Total verzettelt

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Ob ein loser Zettel, drei Dutzend Karteikarten oder eine vollgeschriebene Handfläche: Gedächtnisstützen sind unter deutschen Politikern verpönt - und das nicht erst seit dem Palin-Patzer.

Nico Fried, Berlin

Gerhard Schröder, einst Bundeskanzler, musste viele Reden halten. Fleißige Mitarbeiter schrieben ihm dafür Texte auf, die er meist auf dem Flug zu irgendeinem Ereignis das erste Mal zu sehen bekam. Dabei kam es vor, dass er nach der Lektüre das Manuskript sinngemäß mit den Worten kommentierte: "Jetzt weiß ich, wie ich es mache - jedenfalls nicht so." Schröder war besonders langweilig, wenn er eine Rede ablas, zum Beispiel Regierungserklärungen im Bundestag. Und Schröder war besonders gut, wenn er frei sprach, zum Beispiel im Wahlkampf.

Freies Reden ist in Deutschland unter Spitzenpolitikern weit verbreitet. Eigentlich gilt sogar der Schluss: Nur wer frei reden kann, kommt in höchste Ämter. Sarah Palin hätte es mithin in Deutschland genau so schwer wie in den USA. Die ehemalige politische Partnerin von John McCain und Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin wurde jetzt dabei erwischt, dass sie sich Begriffe auf die Hand geschrieben hatte.

Ihre Rede vor der neuen konservativen Bewegung Tea Party hielt sie zwar, ohne zu spicken. Als sie aber anschließend nach den drei wichtigsten Zielen der Republikaner gefragt wurde, warf sie einen Blick in ihre Hand, auf der zu lesen war: "Energie", "Steuern", und "Amerikaner aufmuntern".

Deutsche Politiker halten zwar in der Regel weniger mitreißende Reden als viele ihrer US-Kollegen, sind aber im freien Vortrag ziemlich souverän. Angela Merkel nimmt meist ein vorbereitetes Manuskript mit aufs Podium, hält sich dann aber oft nicht daran, weshalb ihre Reden auch kaum noch vorab an die Presse verteilt werden. Die amtierende Bundeskanzlerin gilt mittlerweile sogar als besonders authentisch, gerade wenn sie in dem ihr eigenen umständlichen Satzbau von drei Pointen zwei versemmelt.

Nur wenige Spitzenpolitiker nehmen Notizen mit ans Pult. Fast legendär allerdings sind die Zettel des SPD-Politikers Franz Müntefering. Auf dem Parteitag der Sozialdemokraten in Hamburg 2007 hatte Müntefering für seine Rede einen Zettel auf Postkartengröße gefaltet, zunächst mit grüner Tinte einige Stichworte aufgeschrieben und diese bis kurz vor seinem Auftritt mit schwarzer Tinte ergänzt. Seine Rede wurde umjubelt, während der damalige Vorsitzende Kurt Beck mit rund drei Dutzend Karteikarten antrat und den Großteil seines Publikums in die Verzweiflung schwadronierte. Die Zettel seiner erfolgreichsten Reden hat Müntefering aufgehoben.

"Ehrlich erstaunt"

Deutsche Politiker wissen übrigens auch oft, wovon sie reden. Die Macher der Talkrunde Hart aber fair bieten nach jeder Sendung im Internet einen sogenannten Faktencheck an. Und Moderator Frank Plasberg sagt, er sei "ehrlich erstaunt", wie gut die Angaben seiner Gäste aus der Politik in der Regel der anschließenden Überprüfung standhielten. Bisweilen komme es vor, dass die Politiker sich nicht nur vorbereiteten, sondern ihre Quellen auch gleich für den Faktencheck mitbrächten.

Von Spickzetteln rät Plasberg seinen Gästen grundsätzlich ab - es sei denn, ein Politiker setzt sie in geradezu virtuoser Weise als Beweismittel ein, so wie der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach, der jüngst in einer Sendung über das Minarett-Verbot in der Schweiz quasi aus jeder seiner Taschen ein Dokument zaubern konnte.

Wenn mal eine falsche Zahl durchrutscht, handelt es sich meist um ein Versehen. Nur gelegentlich könnte es auch politische Absicht sein: Zu Zeiten als bayerischer Innenminister redete zum Beispiel Edmund Stoiber gerne über die organisierte Kriminalität. Die Gefahr wuchs von Rede zu Rede, wie sich Zeitzeugen erinnern, weil Stoiber einfach die Summen, die von den Verbrechern angeblich umgesetzt wurden, immer weiter wachsen ließ.

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SZ vom 10.2.2010/juwe
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