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Wahl in Spanien:"Heute wird verklärend zurückgeblickt"

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Ein offenes Bekenntnis der bürgerlichen Schicht zum Franco-Regime sei kein Tabu mehr. Damit erkläre sich auch der Erfolg der nationalistischen Vox-Partei, sagt Professor Carlos Collado Seidel.

Interview von Thomas Urban, Madrid

Professor Carlos Collado Seidel lehrt spanische Zeitgeschichte an der Universität Marburg und ist Generalsekretär des PEN-Zentrums Deutschland.

SZ: Hat Sie der Aufstieg der nationalpopulistischen Partei Vox überrascht? Bei den Wahlen 2016 hatte sie ganze 0,2 Prozent der Stimmen bekommen, jetzt sind es 10,3 Prozent.

Carlos Collado Seidel: Im Prinzip nicht, denn es gab immer einen latenten Nationalismus in Spanien. Doch dass dies in diesem Tempo passierte, ist schon frappierend, erklärlich jedoch angesichts der dramatischen Ereignisse in Katalonien im Herbst 2017.

Warum hat sich dieser Nationalismus nicht schon früher bei Wahlen in Spanien gezeigt?

Die Erinnerung an die Repressionen und Verbrechen der Franco-Diktatur hat es den Nationalisten fast unmöglich gemacht, sich offen zu ihrer Einstellung zu bekennen. Hinzu kam, dass die konservative Volkspartei (PP), die aus einer Gruppierung franquistischer Reformer hervorging, in ihren Programmen so breit aufgestellt war, dass sie sowohl für bürgerliche Demokraten als auch Rechtsextreme attraktiv war. Die Haltung der Letztgenannten trat damit nicht allzu sichtbar nach außen, in ähnlicher Weise, wie dies ja auch bei den deutschen Christdemokraten mit dem rechten Rand lange der Fall war.

Ein zwar drittrangiges, aber höchst umstrittenes Thema im Wahlkampf war die Umbettung der sterblichen Überreste Francos, die das sozialistische Minderheitskabinett anstrebt.

In der Tat weckt dieses Thema heute viel größere Emotionen, als dies noch vor zwei oder drei Jahrzehnten der Fall gewesen wäre. Ein offenes Bekenntnis zum Erbe und zu vermeintlichen Leistungen der Franco-Diktatur ist heute in bürgerlichen Kreisen kein Tabu mehr.

Welche Teile des Franco-Erbes sind damit gemeint?

Man darf nicht vergessen, dass ein beträchtlicher Teil der bürgerlichen Schichten vom Franco-Regime profitiert hat. Heute wird verklärend zurückgeblickt, als stünde die Diktatur für soziale Stabilität, in der traditionelle Wertvorstellungen Bestand gehabt hätten. Dem wird nachgetrauert, und dieser Teil der Bevölkerung sah in der PP ihre politische Heimat, bis es Mariano Rajoy in einer sich polarisierenden Gesellschaft nicht mehr gelang, die Anhängerschaft als Partei der konservativen Mitte zusammenzuhalten.

Nun versuchte der Nachfolger an der Spitze der PP, Pablo Casado, einen Rechtsschwenk. Damit konnte er nicht punkten.

Nein, denn an der rechten Flanke ist ja mit Vox ein Konkurrent entstanden, der vorgibt, nicht nur für die Einheit Spaniens, sondern auch die Interessen der "kleinen Leute" zu streiten. Vox ist in den Augen vieler Wähler eine glaubwürdige Alternative zur PP. Hinzu kommt, dass Vox der PP vorwirft, im Katalonien-Konflikt viel zu zaudernd reagiert zu haben. Madrid hätte entschlossener auftreten und härter durchgreifen müssen, etwa durch ein Verbot der separatistischen Parteien. Die Katalonien-Krise hat die Mehrheit der spanischen Bevölkerung in höchstem Maße erregt.

Was bedeutet dieser Aufstieg für die Rolle Spaniens in der Europäischen Union?

Ganz sicher strebt Vox keinen Austritt aus der EU an, denn Spanien profitiert ja in enormer Weise von der Mitgliedschaft. Doch werden die Führer von Vox nach den Europawahlen im Mai versuchen, Bündnisse mit anderen nationalpopulistischen Parteien im Europäischen Parlament zu schließen, um vor allem in gesellschaftspolitischen Fragen einen Kurswechsel durchzusetzen.

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SZ vom 27.04.2019
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