Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Spanien streitet über die mangelnde Vorbereitung auf die Krise

Lesezeit: 3 min

Von Thomas Urban, Madrid

In Spanien tobt ein heftiger Streit über die mangelnde Vorbereitung des Landes auf die Corona-Krise. Zwar zeigt die Regierung sich optimistisch, den Virusausbruch bald in den Griff zu bekommen. Die jüngsten Daten seien ermutigend, ein Rückgang der Epidemie stehe kurz bevor, sagt Ministerpräsident Pedro Sánchez am Donnerstagmorgen vor Abgeordneten in Madrid. Aber seiner Regierung werden vor der Abstimmung im Parlament über die Verlängerung des Notstands Vorwürfe gemacht.

Nicht nur wirft die rechte Opposition erwartungsgemäß der Linkskoalition unter Premierminister Sánchez vor, viel zu spät auf die Warnungen der Weltgesundheitsorganisation reagiert zu haben, sondern auch die Regierungsparteien liefern sich einen öffentlichen Schlagabtausch. Die Zunahme der Fälle hat sich zwar verlangsamt, aber noch ist die Ausbreitung des Virus nicht eingedämmt: Am Donnerstagmorgen wurde die Zahl der registrierten Infizierten mit 148 220 angegeben, die der Todesopfer stieg auf 14 792.

Die Debatte über die Ursachen kreist um die Massenkundgebungen zum Internationalen Frauentag am 8. März. Allein in Madrid wurden 120 000 Demonstranten gezählt; drei Ministerinnen und die Ehefrau von Sánchez mussten wenige Tage später bekannt geben, dass sie sich mit dem Virus angesteckt hatten. Die Opposition lässt keine Gelegenheit ungenutzt, dem stets übermüdet wirkenden Sánchez dafür die Verantwortung zuzuschreiben. Mitglieder der von Sánchez geführten Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) verweisen darauf, dass der Koalitionspartner, das linksalternative Bündnis Unidas Podemos, sich vehement gegen ein Verbot der Veranstaltungen gestemmt habe. Ihren großen Auftritt hatte dabei die Ministerin für Frauenrechte, Irene Montero, die die Lebensgefährtin des Podemos-Chefs Pablo Iglesias ist. Doch Podemos gibt den Vorwurf an die Adresse der Sozialisten zurück. Denn aus deren Reihen kommt Gesundheitsminister Salvador Illa, und der hatte keine Einwände gegen die Massenveranstaltungen, die nach Aussagen von Experten wie ein Brandbeschleuniger bei der Verbreitung des Virus gewirkt haben.

Die Ansteckungen hatten auch deshalb so stark zugenommen, weil Schutzkleidung fehlte

Sánchez warb nun für einen "nationalen Pakt" zur Überwindung der Krise. Der konservative Oppositionsführer Pablo Casado erklärte dazu nur, dass Sánchez die vergangenen beiden Wochen keinerlei Kontakt zur Opposition gesucht habe, nun wolle er diese offenkundig einbinden, um die Verantwortung für die Lage Spaniens zu teilen. Fast alle großen Zeitungen beklagen, dass die Politiker bislang nicht in der Lage gewesen seien, den Parteienstreit zurückzustellen. Allerdings gehörte es bislang nicht zu den politischen Traditionen des Landes, dass die Regierung die Opposition in die Lösung von Staatskrisen einbindet.

Spanien hatte bislang in Europa die höchsten Zuwachsraten bei den Zahlen der Angesteckten und Verstorbenen. Die Debatte kreist auch um die unklare Kompetenzverteilung im Gesundheitswesen. Eigentlich sind dafür die 17 Regionen zuständig, doch die nötigen Investitionen und Einkäufe von Material müssen über das Ministerium in Madrid laufen. Die Ansteckungen hatten stark zugenommen, weil dem medizinischen Personal zunächst die nötige Schutzkleidung fehlte.

Gesundheitsminister Salvador Illa teilte am Mittwoch mit, dass der Druck auf die Intensivstationen zurückgehe: Täglich kämen nur noch drei Prozent Intensivpatienten dazu, vor zwei Wochen seien es 16 Prozent gewesen.

Für die 47 Millionen Spanier gilt bis zum 26. April eine strikte Ausgangssperre, zur Arbeit dürfen nur die Angestellten von Institutionen und Betrieben fahren, die für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur verantwortlich sind. Ansonsten darf die eigene Wohnung nur zum Einkaufen von Lebensmitteln und für Arztbesuche verlassen werden. Geöffnet haben auch Apotheken, während alle anderen Geschäfte sowie Bars und Restaurants geschlossen sind. Sport im Freien ist verboten. Die Polizei macht Jagd auf Jogger und Spaziergänger, was wiederum zu lebhaften Debatten im Netz geführt hat.

Neben den Strukturproblemen in der Politik sehen Experten grundsätzliche gesellschaftliche Probleme, die die Ausbreitung des Virus gerade in Spanien begünstigt haben: die Überalterung der Gesellschaft und die Landflucht, die interne Migration von den Dörfern in die Ballungszentren. Die klassischen Familienverbände werden immer mehr aufgelöst, das Drei-Generationen-Haus wird zur Seltenheit in den Städten. Vielmehr hat der Anteil der Senioren, die in Altenheimen leben, in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen, es sind fast 400 000. Die Einrichtung von Altenheimen wurde in den Boomjahren überdies steuerlich gefördert, sodass der Sektor auch für Investoren interessant wurde. Da die privaten Heime Gewinn abwerfen sollten, wurde wenig in die Vorsorge investiert, auf das Coronavirus waren die allermeisten Seniorenresidenzen Spaniens nicht vorbereitet - sie waren aber auch nicht von den Aufsichtsbehörden dazu angehalten worden.

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SZ vom 09.04.2020
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