Süddeutsche Zeitung

Skandal um Firma Envio:Das Gift der Stadt

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Vergiftete Hallen, verseuchte Maschinen, menschenleeres Gelände: Die Firma Envio soll in Dortmund jahrelang gefährliches PCB gelagert haben. Ehemalige Arbeiter sind jetzt an Krebs erkrankt. Die Behörden ermitteln nun gegen das Unternehmen, das noch 2009 einen Umweltpreis gewonnen hatte. Einer der größten Giftskandale der letzten Jahre verbreitet Angst unter den Bewohnern des Dortmunder Nordens.

Bernd Dörries

"Woanders wäre das Gift schon längst weg", sagt Wiebke Claussen. Woanders hätte sich die Politik schon längst gekümmert um die schleichende Gefahr. Hier sei aber nicht woanders, sagt Claussen. Sondern die Dortmunder Nordstadt. Claussen sitzt in der Küche ihrer Wohnung, von der man auf andere Wohnungen schauen kann.

Es ist einer dieser Stadtteile, die man schwierig nennt. Viele Migranten, viele Arbeitslose. "Die Menschen haben hier andere Probleme, als sich politisch zu engagieren", sagt Claussen. Das Gift ist nur eine von vielen Sorgen. Es ist recht ruhig geblieben im Dortmunder Norden. Auch nachdem Anfang 2010 einer der größten Giftskandale der vergangenen Jahre in Deutschland aufgedeckt worden war.

Vor einem Jahr haben Claussen und ihre Mitstreiter eine Bürgerinitiative gegründet, um Druck zu machen auf die Politik und die Justiz, damit aufgeklärt wird, was da passiert ist, nur einen Kilometer von der Wohnung Claussens entfernt. Dort im Hafen hatte sich die Firma Envio angesiedelt, ein graues Bürogebäude mit roten Fensterrahmen und flachen Hallen.

Der Hof ist leer, das Logo vom Haus verschwunden. Aber im Internet lebt Envio weiter, als sei nichts geschehen. Es wird zur Hauptversammlung der Aktionäre eingeladen, ein Firmenvideo preist die Geschäftsphilosophie: "Unsere Kompetenz liegt darin, auf der ganzen Welt schnell eingreifen zu können, um die Umwelt und die Menschen dort zu schützen."

Auch die Behörden und die Politik glaubten lange daran, dass Envio nur Gutes im Schilde führe und die Welt von Polychlorierten Biphenylen - kurz: PCB - befreie, die als Isolierflüssigkeit noch in Tausenden Transformatoren und Kondensatoren steckt. Envio wollte die Welt von der 2001 verbotenen Chemikalie reinigen und ein wenig profitieren von Gold, Platin und den seltenen Erden, die auch noch in den Transformatoren steckten.

Die Stadt Dortmund übergab der Firma sogar noch 2009 ihren Umweltpreis, aus Düsseldorf kam der Minister angereist. Zu der Zeit hatten die Messstationen im Dortmunder Norden schon über Jahre erhöhte PCB-Werte gemessen, nur wollte niemand so genau wissen, woher das Gift kam. Weil ja niemand die Success-Story, wie man das heute nennt, im Norden Dortmunds kaputtmachen wollte. Wo man es dort doch sonst nicht leicht hat.

Mit Gift verseuchte Trafos aus Kasachstan

Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat im Juni Anklage gegen den Geschäftsführer und den Betriebsleiter der ehemals preisgekrönten Firma erhoben, wegen des unerlaubten Betreibens einer Abfallentsorgungsanlage und der Körperverletzung in 51 Fällen. Transformatoren, die die Firma bis aus Kasachstan importierte, um sie zu entsorgen, sollen auf freiem Gelände gelagert worden sein, Mitarbeiter ohne ausreichende Schutzkleidung mit PCB hantiert haben. Die Entsorgung des PCBs soll kein geschlossenes System gewesen sein, wie eigentlich vorgeschrieben. Das Gift gelangte in die Luft und in den Boden.

Jetzt liegt das Gift noch immer in den Hallen, die längst keiner mehr betritt. Mitten in der Stadt. Mitarbeiter einer Firma auf dem Nachbargrundstück klagten in der vergangenen Woche über Gesundheitsbeschwerden und gaben mal wieder Blutproben ab. Man kann davon ausgehen, dass in anderen Städten die Mütter ihre Kinder nicht mehr auf die Spielplätze lassen würden und die Kleingärtner ihr Gemüse vor das Rathaus kippen würden. In Dortmund passiert: fast nichts.

Stadt und Bezirksregierung halten das Gelände für sicher, das Landesumweltministerium hat aber weitere Proben angefordert, nachdem Journalisten der WAZ kürzlich über das Gelände spaziert waren und ungesicherte Bereiche entdeckt hatten.

Das ganze Gelände muss aufwendig saniert werden. Die ungeklärte Frage ist aber, wer das alles zahlt. Envio prozessiert derzeit in vielen Verfahren gegen die Schließung des Betriebs. Die Bezirksregierung sagt, man könne erst mit der Sanierung des Geländes beginnen, wenn die Verfahren abgeschlossen seien. Das kann dauern. "Alle Beteiligten versuchen nur, Zeit zu gewinnen", sagt Wiebke Claussen. Sie und die Leute von der Bürgerinitiative versuchen, den Druck aufrechtzuerhalten, so gut es geht.

Im Herbst wird wahrscheinlich das Hauptverfahren gegen den Geschäftsführer beginnen, der mit seinem Jaguar noch immer gelegentlich auf das Firmenareal kommt. Rein theoretisch könnten sich auch die ehemaligen Mitarbeiter als Nebenkläger anschließen. Sie haben aber derzeit wohl andere Sorgen. Damals schleppten sie den Staub ahnungslos in ihren Kleidern nach Hause, verseuchten ihre Frauen und Kinder.

300 Mitarbeiter und Angehörige haben stark erhöhte PCB-Werte, bis zu 25 000 Mal über dem Durchschnitt. "Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas in Deutschland möglich ist. Dass Menschen unter solchen Bedingungen arbeiten mussten", sagt Thomas Kraus von der Uniklinik Aachen, wo die ehemaligen Angestellten untersucht und betreut werden. Sechs von ihnen haben Krebs, bei weiteren sechs soll in einer Studie ein kompletter Blutaustausch getestet werden.

Depressiv vor Angst

Das PCB hat Auswirkungen auf die Funktion des Nervensystems und die Schilddrüse. "Manche haben auch einfach Angst, dass ihnen etwas passiert, und werden depressiv", sagt der Mediziner Kraus.

Eine Entschädigung haben die Betroffenen von Envio nicht erhalten, die Zivilprozesse könnten sich über Jahre hinziehen. Und eine Interessenvereinigung der Geschädigten gibt es bis heute nicht. Die Arbeiter kamen aus Leiharbeitsfirmen, was den Kontakt untereinander erschwert.

Die ständig wechselnde Belegschaft aus Fremdfirmen gehörte wohl auch zum Envio-Konzept. Mit Leiharbeitern hat man es einfacher als mit Festangestellten, die womöglich einen Betriebsrat gründen und unangenehme Fragen stellen. Trotzdem ging im Jahr 2008 eine anonyme Anzeige bei der Bezirksregierung Arnsberg ein, in der die gefährlichen Praktiken bei Envio beschrieben wurden. Schon damals hätte alles auffliegen müssen.

Die Bezirksregierung tat aber wenig, um die Vorwürfe zu überprüfen, leitete die Anzeige an die Firma weiter und fragte höflich, wann man denn einmal nach dem Rechten sehen könne. Als die Betriebsprüfer dann kamen, gab es nichts mehr zu sehen. "Häufigere und unangemeldete Betriebsprüfungen hätten zur frühzeitigeren Aufdeckung des Skandals beigetragen können", gibt die Bezirksregierung mittlerweile zu. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die Aufsichtsbehörde wurden aber eingestellt.

In einem Gutachten, das die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf über den Skandal in Auftrag gegeben hat, wird auch die "Privat vor Staat"-Ideologie der schwarz-gelben Vorgängerregierung für den Skandal mitverantwortlich gemacht, den zuständigen Behörden hätten die Prüfer gefehlt. Die Verwaltung habe sich zudem zu stark als Dienstleister verstanden.

"In den letzten zehn Jahren wurde Überwachung zugunsten von Genehmigung vernachlässigt." Die Landesregierung hat 300 neue Stellen für Prüfer geschaffen, die verhindern sollen, dass sich der Envio-Skandal wiederholt. "Nur um die verseuchte Fläche im Dortmunder Norden hat sich noch niemand gekümmert", sagt Wiebke Claussen von der Bürgerinitiative.

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Quelle:
SZ vom 13.08.2011/hü
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