Süddeutsche Zeitung

Schweiz:Wenn Richter politische Parteien finanzieren

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Richter in der Schweiz werden gewählt, müssen einer Partei angehören und dieser Partei regelmäßig Geld überweisen - ein Unikum in Europa. Ein Volksbegehren will das ändern und damit die Justiz unabhängiger machen.

Von Isabel Pfaff, Bern

"Es gibt kein Problem", konstatierte der ehemalige Schweizer Bundesrichter Ulrich Meyer unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung. Er meint das System, nach dem die Schweiz ihre höchsten Richter bestimmt. Der inzwischen abgetretene Jurist ist offenkundig davon überzeugt, dass es da an keiner Stelle hakt: "Das Schweizerische Bundesgericht (...) urteilt seit 1875 in voller Unabhängigkeit, seit bald 150 Jahren also, Tag für Tag, in mehr als achttausend Fällen, welche ihm jährlich unterbreitet werden."

Um zu verstehen, warum Meyer die Unabhängigkeit des Schweizer Bundesgerichts so betont, muss man wissen, dass sich die Schweiz bei der Bestellung ihrer Richterinnen und Richter ein paar Eigenheiten leistet. Die wichtigste: Die politischen Parteien des Landes spielen bei der Vergabe von Richterposten die entscheidende Rolle.

Wie in anderen Ländern werden Schweizer Richter gewählt, von Parlamenten oder teilweise von der Bevölkerung direkt. Um dabei zum Zug zu kommen, müssen sie faktisch allerdings Mitglied einer Partei sein, denn die Richterposten werden nach Parteistärke vergeben. Je stärker eine Partei, desto mehr Richterstellen stehen ihr in diesem System zu. Schließlich müssen Richterinnen und Richter jedes Jahr einen Teil ihres Gehalts an die Partei überweisen, auf deren Ticket sie auf ihren Posten gelangt sind: die sogenannte Mandatssteuer, je nach Partei zwischen 3000 und 13 000 Franken. Mit Ausnahme des Kantons Freiburg, wo sie auf Lebenszeit gewählt werden, müssen sich Richter in allen anderen Kantonen und auf Bundesebene einer Wiederwahl stellen. Wollen sie ihren Posten behalten, bezahlen sie die Mandatsteuer deshalb.

Dieses Konstrukt wirft Fragen der richterlichen Unabhängigkeit und damit der Gewaltenteilung auf. Damit ist die Schweiz in Europa zwar nicht allein, siehe Polen, Ungarn - oder Deutschland: Auch hierzulande kommt immer wieder Kritik auf, weil Legislative und Exekutive bei der Besetzung von Richterposten stark mitmischen. Doch insbesondere die Wiederwahl, der offene Parteienproporz und die Mandatssteuer machen die Eidgenossenschaft zu einem Unikum. Eines, an dem sich immer mehr Schweizer stören.

Der wortgewaltigste unter den Kritikern: Adrian Gasser, schillernder Unternehmer und selbsternannter Kritiker der "classe politique". Der 78-Jährige hat viel Geld in die Hand genommen, um das System der Richterwahl zu verändern - zumindest am Bundesgericht. Das jetzige System sei praktisch "Schutzgelderpressung", sagte er der SZ 2019, als er gerade Unterschriften für sein Volksbegehren sammelte. Gasser hat genug zusammenbekommen, und so werden die Schweizer Stimmberechtigten am Sonntag über seine "Justiz-Initiative" entscheiden.

Die rechtskonservative SVP hatte einem Richter mit Abwahl gedroht - weil er nicht in ihrem Sinne entschied

Die Idee in aller Kürze: Nicht mehr der Parteienproporz soll die Wahl der Bundesrichter bestimmen, sondern ein Losverfahren. Zunächst prüft eine von der Regierung einberufene Fachkommission alle Kandidaten auf fachliche und persönliche Eignung. Wer dann im Losverfahren erfolgreich ist, darf bis zum Alter von 70 Jahren im Amt bleiben. Eine Wiederwahl entfällt damit, genauso wie eine faktisch erforderliche Parteimitgliedschaft oder Mandatssteuer. Dem Parlament wird jedoch die Möglichkeit eingeräumt, Bundesrichter in bestimmten Fällen abzuberufen.

Nun streitet die Schweiz darüber, wie unabhängig ihre Justiz wirklich ist - und ob Gassers Vorschlag die Probleme lösen kann. Denn dass es Probleme gibt, lässt sich kaum bestreiten; spätestens, seit die Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (Greco) die Schweiz 2019 für ihr Richterwahlsystem gerügt hat, hat das Land es schwarz auf weiß. Doch auch im Land selbst mehren sich die Stimmen derer, die eine Reform fordern. Bisher hatten Wissenschaftler dem Schweizer System attestiert, dass es in der Praxis gut und vor allem unabhängig funktioniere. Doch das Bild hat Risse bekommen.

So hatte die rechtskonservative SVP 2019 einem "ihrer" Bundesrichter mit Abwahl gedroht, weil er ein paar Mal nicht in ihrem Sinne entschieden hatte. Es kam nicht dazu, aber der offen geäußerte Druck auf den Richter spricht für sich. Und Anfang 2021 kam eine Studie zu dem Schluss, dass die Parteimitgliedschaft von Richtern in bestimmten Bereichen durchaus ihre Urteile prägt: Demnach heißen sozialdemokratische Richter Asylbeschwerden etwa doppelt so häufig gut wie ihre SVP- und FDP-Kollegen.

Politikwissenschaftler und Soziologinnen kritisieren zudem, dass das jetzige System ein "Repräsentationsdefizit" habe: Wenn nur rund sieben Prozent der Bevölkerung Mitglied in einer Partei seien, bilde ein Parteienproporz bei den Richterposten diese Bevölkerung nicht angemessen ab, schreiben die Professorinnen Katja Rost und Margit Osterloh. Auch die schweizerische Richtervereinigung moniert die periodische Wiederwahl von Richtern und den faktischen Ausschluss von Parteilosen. Nicht einverstanden ist der Verband allerdings mit dem vorgeschlagenen Losverfahren, weil es die Bedeutung der demokratischen Legitimation von Richtern durch eine Parlamentswahl ausblende. Die Richter hatten deshalb das Parlament aufgefordert, die Initiative abzulehnen und einen Gegenvorschlag auszuarbeiten.

Abgelehnt haben die Parlamentarier die Initiative auch, und zwar in seltener Eintracht, von links bis rechts. Einen Gegenvorschlag gibt es jedoch nicht. Wenn die Initiative nun am Sonntag scheitert (was Umfragen derzeit nahelegen), wird sich also überhaupt nichts ändern. Ein Zufall? Eher nicht. Im Parlament sitzen schließlich Mitglieder von Parteien. Wenn Adrian Gasser mit seiner Idee durchkäme, verlören diese viel Geld und Einfluss; offensichtlich deshalb blockieren sie eine Reform.

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