Süddeutsche Zeitung

Schweiz:Ende der Erpressung

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Eine Initiative will den Einfluss der Politik in der Justiz zurückdrängen - bisher bestimmen die Parteien sehr stark mit, wer eine Robe trägt.

Von Isabel Pfaff, Bern

Als kleiner Junge hatte Adrian Gasser eine clevere Idee. In der Kirschenzeit verriet er seinen Schulkameraden für eine Gebühr von zwei Franken, welche Bäume besonders viele Früchte tragen. Auf Kosten der Bauern machte er so ein ordentliches Geschäft. "Ich habe etwas verkauft, was mir nicht gehörte", erzählt Gasser, "und das ist nicht in Ordnung."

Rund 70 Jahre nach dem Kirschenhandel nimmt Adrian Gasser, Immobilienentwickler und einer der reichsten Schweizer, nun viel Geld in die Hand, um ein ähnliches Geschäftsmodell per Volksabstimmung zu stoppen: die Praxis der Richter-ernennung in der Schweiz. Im Moment werden die Richter am Bundesgericht in Lausanne vom Parlament gewählt, nach Parteienproporz. Jede Partei darf also gemäß ihrer Stärke eine bestimmte Zahl von Richtern aufstellen, die in der Regel gewählt werden - eine über die Jahrzehnte etablierte, ungeschriebene Regel. Das allein ist nicht ungewöhnlich; auch in Deutschland haben Legislative und Exekutive viel Einfluss auf die Richterwahl, weshalb oft CDU- und SPD-nahe Kandidaten das Rennen machen. Doch in der Schweiz gelten noch zwei weitere Regeln, die zumindest Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz wecken.

Nicht die Parteimitgliedschaft soll bestimmen, wer künftig ins Amt gewählt wird

Um von einer Partei aufgestellt zu werden, müssen künftige Bundesrichter Mitglied dieser Partei werden und ihr nach der Wahl jährlich einen bestimmten Geldbetrag überweisen, die sogenannte Mandatssteuer. Auch Parteimitglieder, die ein politisches Amt ausüben, entrichten diese Steuer. Sie kann je nach Partei mehrere Tausend, aber auch mehrere Zehntausend Franken betragen und ist eine wichtige Einnahmequelle der Parteien, da es in der Schweiz keine staatliche Finanzierung gibt. Und obwohl auch die Mandatssteuer nirgendwo gesetzlich festgehalten ist, zahlen die Richter sie in aller Regel - weil sie ansonsten um ihr Amt fürchten müssten. Bundesrichter müssen sich nämlich alle sechs Jahre neu wählen lassen.

Adrian Gasser findet, das erinnert an Schutzgelderpressung. Die Parteien verkaufen seiner Ansicht nach ein Amt, das ihnen in einem Rechtsstaat nicht gehört. "Eine Demokratie braucht eine klare Gewaltenteilung. In der Schweiz sind Politik und Justiz aber auf katastrophale Weise verquickt." Tatsächlich bestimmen die Parteien nicht nur über die Bundesrichterposten, sondern beeinflussen die Richterbesetzung auch auf den übrigen Justizebenen. Mit Ausnahme des Kantons Fribourg, wo 2010 das Prinzip der Wiederwahl abgeschafft wurde, gelten in den Kantonen und Gemeinden ähnliche Regeln wie auf Bundesebene.

Mit seiner Kritik an diesem System ist Adrian Gasser nicht allein. Einzelne Richter stimmen ihm zu ("solche, die nicht mehr wiedergewählt werden wollen", wie er sagt), und auch aus der Schweizer Rechtswissenschaft kommt immer wieder Kritik. Vor allem der Parteienzwang und die Möglichkeit der Abwahl aus politischen Gründen seien "sehr problematisch" für die richterliche Unabhängigkeit, sagt Martina Flick, Politologin und Justizexpertin an der Uni Bern. Selbst die Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (Greco) hat die Schweiz schon mehrfach für ihr Richterwahlsystem gerügt. Einzig die Parteien halten sich bislang zurück mit Positionierungen. Dabei lieferte eine von ihnen jüngst den Beweis dafür, dass es um die Unabhängigkeit der Schweizer Bundesrichter nicht gut bestellt ist: In einem Verfahren zur Großbank UBS hatte ein SVP-Richter im Juli gegen die Linie seiner Partei entschieden - und musste sich von den Oberen seiner Partei mit Abwahl drohen lassen.

Unternehmer Gasser will solche Vorfälle nicht länger hinnehmen. Im vergangenen Jahr begann er, Unterschriften für eine Abstimmung über eine andere Ernennung der Bundesrichter zu sammeln. Künftig, so seine Idee, soll es eine Fachkommission geben, bei der sich Juristen bewerben können. Sind sie geeignet, landet ihr Name in einem Losverfahren. Der Zufall, nicht die Parteimitgliedschaft, soll also darüber bestimmen, wer Bundesrichter wird. Außerdem schlägt Gasser vor, die Wiederwahl abzuschaffen, um die Richter von der Gunst des Parlaments unabhängig zu machen. 100 000 Unterschriften sind nötig, damit das Volk über diese Verfassungsänderung abstimmen darf; Gasser und sein Initiativkomitee haben nach eigenen Angaben bereits mehr als 125 000 beisammen und wollen sie in wenigen Tagen einreichen.

Ob sich eine Mehrheit der Schweizer für Gassers Vorschlag aussprechen wird, wird sich erst bei der Abstimmung in ein bis zwei Jahren zeigen. Expertin Martina Flick gibt zu bedenken, dass die Schweiz in internationalen Studien zwar schlecht abschneidet, wenn es um die formale Unabhängigkeit der Justiz geht. Doch dieselben Studien zeigen auch, dass es faktisch kaum zu Problemen kommt: "In der Praxis funktioniert das Schweizer System recht gut." So respektierten Politik und Behörden Entscheidungen der Justiz in aller Regel, und auch die Wiederwahl der Richter sei kein Problem.

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SZ vom 17.08.2019
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