Süddeutsche Zeitung

"Schwarzer Donnerstag":Das Gesicht der Proteste gegen Stuttgart 21

Lesezeit: 2 min

Von Roman Deininger

Wenn irgendwo gegen Stuttgart 21 demonstriert wird, ist Dietrich Wagner mit dabei, wohl auch nächste Woche wieder bei der 352. Stuttgarter "Montagsdemo". Er muss dafür nicht mal persönlich am Ort sein: Unter Stuttgart-21-Gegnern sieht man fast immer Männer, die T-Shirts mit seinem Foto tragen, und Frauen, die sich die Augen blutig geschminkt haben. Wagner, 72, ist das bekannteste Opfer des brutalen Polizeieinsatzes zur Räumung des Stuttgarter Schlossgartens - er ist fast blind seither, nur auf einem Auge hat er noch fünf Prozent Sehkraft.

Gesicht des schwäbischen Volksaufstands gegen den Tiefbahnhof

Jener 30. September 2010, an dem Beamte Pfefferspray und Wasserwerfer auch gegen Schüler und Senioren richteten, hat sich als "Schwarzer Donnerstag" ins kollektive Gedächtnis der Baden-Württemberger gebrannt. Wagner ist damals zum Gesicht des schwäbischen Volksaufstands gegen den geplanten Tiefbahnhof geworden, einem entstellten Gesicht - sein bestürzendes Foto ging um die Welt. Der 16 Bar starke Strahl eines Wasserwerfers hatte seine Augenlider zerrissen, Linsen und Netzhäute zerstört. Die Bäume des Schlossgartens, die er vor den Baggern bewahren wollte, nimmt er heute nur noch als braun-grüne Punkte wahr.

Stück für Stück hat sich Wagner, der früher in einem Ingenieurbüro arbeitete, Gerechtigkeit erstritten: 2015 erklärte das Verwaltungsgericht Stuttgart den Polizeieinsatz für rechtswidrig; wenig später entschuldigte sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (der 2010 noch nicht im Amt war) im Namen des Landes bei ihm. Dann wurde ihm ein Schmerzensgeld von 120 000 Euro angeboten. Wagner zögerte, diese anzunehmen, weil die Behörden ihm eine Mitschuld zusprachen: Videos zeigen, dass er mit Kastanien auf Beamte warf und immer wieder vor den Wasserwerfer lief. Dass Wagner das Schmerzensgeld des Landes Baden-Württemberg nun akzeptiert, wertet man in Stuttgart als Friedenszeichen, das dem Land helfen kann, den Schwarzen Donnerstag zu bewältigen.

Wagner gehört zum harten Kern jener, die den Protest nicht aufgeben

Stuttgart 21 befindet sich inzwischen im Bau, und Wagner gehört zum harten Kern jener, die ihren Protest nicht aufgeben. Selbst nach seiner Verletzung hat er lange kaum eine Demo ausgelassen, bei Fahrrad-Aktionen saß er hinten auf dem Tandem. Auch an den Sitzblockaden der Baustellen-Zufahrt nahm er oft teil. "Geht das so, Herr Wagner?", erkundigten sich die Polizisten, die ihn wegtrugen. "Danke, geht gut", sagte Wagner - es waren kleine, ganz kleine Szenen der Versöhnung. Bei Verhandlungen gegen S-21-Gegner saß er als Zuhörer hinten im Gerichtssaal. Wenn er mit etwas nicht zufrieden war, pochte er mit seinem Blindenstock auf den Boden.

Dietrich Wagner ist das Gesicht des Protests geworden, nicht aber das Sprachrohr, was auch daran liegt, dass er gern mal über die Rolle der "amerikanischen Besatzer" beim Polizeieinsatz referiert. Am Dienstag fand er schlichtere Worte: Die Hälfte des Geldes, sagte er, werde seine Lebensgefährtin bekommen, die ihn seit sechs Jahren pflegt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3310676
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 28.12.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.