Süddeutsche Zeitung

Europawahl:Küchenhilfe, Starköchin - und bald Europaabgeordnete?

Lesezeit: 2 min

Von Marten Rolff

Im Nachhinein wirkt der Quereinstieg wie ein Grundprinzip für Sarah Wieners Karriere. Sie war Mitte zwanzig, alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin und ohne jede Ausbildung, als sie begann, im Kreuzberger Szene-Restaurant ihres Vaters Kartoffeln zu schälen. Wer hätte damals darauf gewettet, dass diese Küchenhilfe die bekannteste Köchin im deutschsprachigen Raum werden würde? Später stieg Wiener mit einem umgebauten Küchenwagen der Nationalen Volksarmee ins Film-Catering ein. Wer hätte gedacht, dass sich daraus ein Unternehmen mit knapp 90 Mitarbeitern entwickeln würde? Insofern ist es ernst zu nehmen, wenn die 56-jährige Österreicherin und Wahlbrandenburgerin nun ankündigt, in die Politik zu gehen.

Bei der Europawahl im Mai will die parteilose Fernsehköchin für Österreichs Grüne kandidieren, sie bewirbt sich um den zweiten Listenplatz, darüber entscheiden wird der Parteikongress im März. Wiener will sich den Themen nachhaltige Landwirtschaft, gesunde Ernährung und Biodiversität widmen und weiß, "dass ich eine steile Lernkurve vor mir habe", wie sie den Nachrichtenagenturen sagte. Das klang angemessen demütig, aber auch zu brav, schließlich ist die eloquente Österreicherin wegen ihrer glamourösen Präsenz und ihrer krachigen Zitate eine Bank für Talkshows und Interviews, in denen sie sich für gesundes Essen stark macht und mit raubeinigem Charme gegen die Auswüchse industrieller Landwirtschaft und seelenloser Automatenküchen wettert.

Weniger bieder als viele Kollegen

Der Politik ist Wiener damit schon länger näher, als die Titel "Fernsehköchin" oder "Promigastronomin" vermuten lassen. Da sind einerseits die showträchtigen Stationen, mit denen Wiener ihre Bekanntheit geschickt zementierte: Die Gastronomin betreibt ein Restaurant im Berliner Kunstmuseum Hamburger Bahnhof, sie hat mal die Kantine des Bundespräsidialamtes geführt, als Erste mit Johannes B. Kerner gekocht und Reality-Fernsehen gemacht, als das noch neu war. Sie tourte auf der Suche nach kulinarischen Entdeckungen für den TV-Sender Arte durch Europa und verdoppelte durch ihre Ehe mit dem Schauspieler Peter Lohmeyer zeitweise ihre Ausflüge auf rote Teppiche.

Daneben steht ihre Arbeit mit der Sarah-Wiener-Stiftung, die sich seit zwölf Jahren an Schulen für besseres Essen einsetzt und dazu Bauernhofausflüge für Schüler organisiert, die nicht mehr wissen, wie eine Salatgurke aussieht. Mit Aktionen wie "Ich kann kochen" hat die Stiftung mehr als 100 000 Kinder erreicht. Die Chefin lebt inzwischen auf ihrem telegenen 800-Hektar-Landgut Kerkow in der Uckermark, wo sie die Vorteile von Mischsaat und artgerechter Sattelschweinhaltung erläutert.

Geholfen beim Erfolg hat Wiener sicher, dass sie authentischer und weniger bieder wirkt als viele Kollegen. Als Tochter des Kulturphilosophen und Jazzmusikers Oswald Wiener wuchs sie mit zwei Geschwistern bei der alleinerziehenden Mutter in Wien auf, der Künstlerin Lore Heuermann, die oft nicht wusste, wie sie die Miete zahlen sollte. Wiener selbst schildert sich als "faules und zorniges Kind", das die Schule schmiss und mit 16 Jahren kiffend und klauend durch Europa trampte.

Manche finden, dass sie es mit der Pflege ihres Underdog-Images übertreibt, wenn sie gegen die Ungleichheit in Ernährungsfragen zu Felde zieht. Andere werfen ihr vor, sie verzettele sich mit all ihren Projekten, und sie rümpfen die Nase über ihre allzu bodenständige Küche. Kritik, der Wiener mit Selbstironie begegnet: Kochen könne sie "von allem, was ich nicht kann, noch am besten", sagt sie gern.

Um dem Vorwurf der Eigen-PR entgegenzuwirken, kommentierte sie den Quereinstieg in die Politik vorsichtshalber mit dem Satz: "Das ist keine Sarah-Wiener-Persönlichkeitsnummer". Sollte sie ins Europaparlament einziehen, wird vor allem der Realitätsabgleich interessant sein: Sind politisierende Köche naiv oder haben sie am Ende überraschend viel zur Zukunft beizutragen?

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Quelle:
SZ vom 19.02.2019
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