Süddeutsche Zeitung

Nachfolge von Ruth Bader Ginsburg:"Es wird sehr, sehr hässlich werden"

Lesezeit: 4 min

Vor dem Supreme Court in Washington nehmen die Menschen Abschied von Ruth Bader Ginsburg. Der Kampf um die Neubesetzung am höchsten US-Gericht hat bereits begonnen.

Von Alan Cassidy, Washington

Mary Fitzgerald ringt erst einmal um Fassung. Sie blinzelt die Tränen weg, sie schaut auf die Blumen, die auf dem Boden liegen, auf die Kerzen und Trauerkarten. Es ist Samstagmorgen in Washington, und Hunderte Menschen sind zum Supreme Court gekommen, um Abschied von Ruth Bader Ginsburg zu nehmen. Mary Fitzgerald ist eine von ihnen, eine Lobbyistin in ihren Sechzigern mit Maske und Sonnenhut. "Sie war so winzig und doch so stark", sagt sie über die 87 Jahre alt gewordene Richterin. "Ich weiß, dass sie es bis zur Wahl schaffen wollte, ich weiß es einfach. Und jetzt ..." Mary Fitzgerald entschuldigt sich, die Tränen, schon wieder.

Ruth Bader Ginsburg hat es nicht geschafft. Sie starb am Freitagabend an Krebs, wenige Wochen vor der Wahl. "Das passt zu diesem Jahr", sagt Mary Fitzgerald, "alles, was schiefgehen kann, geht 2020 schief." Mit Ginsburg verliere das Land eine brillante Juristin, eine Vorkämpferin für die Rechte der Frauen, aber eben auch noch viel mehr. Ihre Freundschaft zum erzkonservativen Richter Antonin Scalia habe sie immer beeindruckt, sagt Fitzgerald. "Das sagt so viel aus über sie und darüber, wie die Dinge in unserem Land einmal waren. Als die Leute noch miteinander reden konnten." Und heute? "Das ist alles vorbei."

Die USA-Flagge vor dem Supreme Court hängt auf halbmast, nicht nur dort, sondern auch auf den anderen Regierungsgebäuden in der Hauptstadt. Selbst Donald Trump fand, als er vom Tod Ginsburgs erfuhr, einige passende Worte: Sie sei eine unglaubliche Frau gewesen, die ein unglaubliches Leben geführt habe. Doch bereits am Samstag redete der Präsident fast nur noch über die gewaltige Möglichkeit, die sich ihm jetzt bietet, mitten in einem Wahlkampf, in dem sonst nicht viel gut für ihn gelaufen war: Er kann an Stelle der linksliberalen Ginsburg einen weiteren konservativen Richter berufen - und den Supreme Court weit nach rechts rücken.

Trump verspricht: Es wird eine Frau

Schon kommende Woche werde er eine Nachfolgerin für Ginsburg präsentieren, sagte Trump, und es werde eine Frau sein. Zu den Favoritinnen zählen nach Medienberichten die konservativen Richterinnen Amy Coney Barrett und Barbara Lagoa, die Trump öffentlich lobte. Ihre Namen stehen auch auf einer Liste von 20 möglichen Kandidaten, die der Präsident vor zehn Tagen vorgelegt hatte. Das Thema war für Trump schon 2016 wichtig, um Wähler an die Urne zu bringen, die ihn als Person nicht mögen, aber die sich möglichst viele konservative Richter wünschen - besonders am Verfassungsgericht.

In den konservativen Medien, bei Fox News zum Beispiel, ist die Euphorie der Kommentatoren seither greifbar. Vor dem Supreme Court dagegen überwiegen am Samstag ganz andere Gefühle: Trauer - und Angst. "Die nächste Zeit wird sehr, sehr hässlich werden", sagt Mary Fitzgerald. Ein Mann geht vorbei, er hält ein Schild hoch. "Honor her", ehrt sie, steht auf der einen Seite. "Stop him", heißt es auf der anderen. Sie, das ist Ruth Bader Ginsburg und ihr Wunsch, dass über ihre Nachfolge erst nach der Wahl entschieden werde. Er, das ist Donald Trump, der sich über diesen Wunsch hinwegsetzen will - egal, was an Protesten kommen mag.

Unterstützt wird er dabei von dem Mann, den viele Anhänger Ginsburgs und der Demokraten fast so sehr verabscheuen wie den Präsidenten: Mitch McConnell. Der republikanische Mehrheitsführer im Senat hat angekündigt, die Parlamentskammer in jedem Fall über Trumps Vorschlag abstimmen zu lassen. Er ließ dabei offen, ob er das noch vor dem Wahltag vom 3. November tun wird oder erst danach, in der Übergangszeit, an dessen Ende Trump vielleicht gar nicht mehr im Amt ist - und der Senat womöglich in den Händen der Demokraten.

Die Demokraten berufen sich auf einen Präzedenzfall

Sicher aber wird McConnell anders handeln als noch 2016. Damals hatte er eine Abstimmung über eine Vakanz am Supreme Court verweigert, die Trumps Vorgänger Barack Obama mit dem Richter Merrick Garland besetzen wollte. McConnell begründete diesen Tabubruch damit, dass die Wähler bei der Neubesetzung des Sitzes mitreden sollten. Es sei nicht zulässig, eine derart weitreichende Entscheidung kurz vor der nächsten Präsidentschaftswahl zu treffen. Das war neun Monate vor dem Wahltermin. Nun sind es bis zur Wahl noch 44 Tage.

Die Demokraten sind deshalb in Aufregung. Chuck Schumer, der Fraktionschef der Partei im Senat, rief dazu auf, mit der Entscheidung über Ginsburgs Nachfolge bis nach der Wahl zu warten. Schumer tat dies in den exakt gleichen Worten, die McConnell vor vier Jahren gebraucht hatte, um sein eigenes Vorgehen zu rechtfertigen. Die Demokraten argumentieren, dass der Republikaner damals einen Präzedenzfall geschaffen habe, gegen den er nun nicht wieder verstoßen könne.

"Sie war eine Kriegerin für Gerechtigkeit"

So sehen das inzwischen selbst einige von McConnells Parteikollegen. "Die Entscheidung über eine Neubesetzung am Supreme Court sollte vom Präsidenten getroffen werden, der am 3. November gewählt wird", teilte die Senatorin Susan Collins am Samstag mit. Um McConnell von einer baldigen Abstimmung abzuhalten, bräuchten die Demokraten allerdings neben der Stimme von Collins auch jene von mindestens drei weiteren republikanischen Senatoren. Ob sie all diese Stimmen erhalten werden, ist fraglich.

Kein Wunder also, dass sich zumindest bei jenen Menschen, die am Samstag vor dem Supreme Court stehen, eine gewisse Wut bemerkbar macht. Für junge Frauen wie sie habe Ruth Bader Ginsburg sehr viel bedeutet, sagt Madeline Morgan. Die Steuerberaterin trägt eine Maske, auf der viele kleine Ginsburg-Köpfe aufgedruckt sind. "Sie kämpfte nicht nur für Frauenrechte, sondern für die Gleichbehandlung aller. Sie war eine Kriegerin für Gerechtigkeit." Sie hoffe sehr, dass der Senat mit einer Abstimmung bis nach der Wahl warte, sagt Morgan. "Aber McConnell hat schon oft gezeigt, dass er seinen Nutzen über den Anstand stellt."

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