Süddeutsche Zeitung

Russland:In Putins autoritärem Theater

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Der Tod ihres Vaters, des russischen Regimekritikers Boris Nemzow, liegt ein Jahr zurück. Jetzt attackiert Schanna Nemzowa das System Putin in einem Buch.

Rezension von Frank Nienhuysen

Die Wunden sind frisch, der gewaltsame Tod des Vaters liegt gerade ein Jahr zurück, so gesehen ist das Buch auch ein veröffentlichtes Stück Trauerarbeit. Schanna Nemzowa, Tochter des ermordeten einstigen Vizepremiers und russischen Energieministers Boris Nemzow, lässt Dampf ab, keine Frage.

Sie schreibt deutliche Sätze wie: "Es gibt kein normales politisches Leben mehr in Russland, nur noch inszeniertes Theater." Oder: "Alles ist gleichgeschaltet." Auch diese, ihre "tiefste Überzeugung" formuliert sie unverblümt: "Dass niemand anders als Wladimir Putin die politische Verantwortung für den Mord an meinem Vater trägt."

Nemzowa ist die Tochter eines russischen Regierungskritikers, und die Binnensicht aus dem Milieu der marginalisierten Opposition ist hier die authentische, auch ausschließliche Perspektive. Trotzdem ist es nicht einfach das Werk einer geschockten, verbitterten jungen Frau, der im Schutz einer vorbeifahrenden Kehrmaschine mit mehreren Schüssen der Vater genommen wurde. Schanna Nemzowa hat als Wirtschaftsexpertin für einen russischen Fernsehsender gearbeitet, hat Druck, Selbstzensur, "die Schere im Kopf" und wachsende Unfreiheit selbst erfahren.

Und sie hat nun eine kritische Bestandsaufnahme eines immer autoritärer werdenden Klimas zu Papier gebracht, in dem "Loyalität zur wichtigsten Bedingung geworden ist, wenn man Karriere machen will". Wer diese Loyalität nicht aufbringen will, wandert aus oder lässt sich auf Probleme ein. Mit unterschiedlicher Tragweite.

Wo der Mut zur Kritik eingeschnürt ist

Nemzowa seziert, dass die vom Staat kontrollierten Medien, allen voran das Fernsehen, in Russland das öffentliche Bewusstsein formen und der Machtsicherung dienen.

Sie beschreibt, wie der Anspruch auf die Krim, der große Staatsakt zum Todestag des historischen Fürsten Wladimir I. zu beherrschenden Medienereignissen wurden, während Themen wie wachsende Armut, die "katastrophale Situation im Gesundheitsbereich, die soziale Ungleichheit" mehr und mehr ausgeblendet werden. Wer allzu radikal opponiert, läuft Gefahr, von der Maschinerie denunziert zu werden.

Wo der Mut zur Kritik aber derart eingeschnürt wird - sie selbst musste beim Sender RBK "jedes Wort auf die Goldwaage legen" - ist für Schanna Nemzowa das Land praktisch verloren. Freiheit und Fortschritt - für sie gehört dies zusammen, "denn eine moderne Gesellschaft ist eine Ideengesellschaft".

Nemzowa glaubt daran vorerst nicht mehr. "Solange Putin an der Macht ist, wird es keinen Wandel geben." Und so hat sie Konsequenzen gezogen und ihre Heimat verlassen. "Russland wachrütteln", ist der gut gemeinte, griffige Titel ihres Buches, und doch ein frommer Wunsch. Im Russland, das sie beschreibt, hat ihre Stimme keine Chance.

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Quelle:
SZ vom 29.02.2016
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