Süddeutsche Zeitung

Russland: Anschlag auf Zug:Angriff auf die Sehnsucht

Wer auch immer den russischen Prestige-Zug Newskij Express entgleisen ließ, der zielte auf das neue Russland. Der Anschlag trifft den Präsidenten selbst.

Sonja Zekri

Wer auch immer am Freitag den russischen Prestige-ZugNewskij Express mit sieben Kilo Sprengstoff entgleisen ließ, der zielte auf die mobilen, technisch versierten, aktiven Leistungsträger, auf das neue Russland, wie es Dmitrij Medwedjew seit Monaten beschwört. Dieser Anschlag trifft den Präsidenten selbst.

Und die Täter? Es gibt, wie meist, wenn in Russland eine Bombe hochgeht, die kaukasische Variante. In den winzigen islamischen Unruheherden ist die Gewalt in diesem Jahr explodiert, die Opferzahlen haben sich vervielfacht. Das russische Kernland ist davon seit längerem unberührt. Würde sich aber die islamistische Version bestätigen, wäre der Terror zurückgekehrt.

Fast dramatischer und mindestens so plausibel ist die zweite Möglichkeit: Russische Faschisten haben sich als Tätergruppe auf entsetzliche Weise etabliert. Ein ultrarechtes Killerpärchen hat wahrscheinlich im Januar den Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastasia Baburowa erschossen. Russische Nationalisten brüsteten sich mit der Ermordung des Antifaschisten Iwan Chutorskij Mitte November. Im Internet finden sich Todeslisten und Handyfilme von Morden an Migranten und Obdachlosen.

Seit langem pflegen russische Politiker folkloristische Feindbilder, etwa gegen Amerika und Tschetschenien, aber auch Fremdenfeindlichkeit gegen Tadschiken und Chinesen. So kanalisieren sie kurzfristig den Unwillen eines gegängelten Volkes.

Nun hat sich daraus eine kleine, extrem gewaltbereite Gruppe gelöst, die Russland dort angreift, wo es am verwundbarsten ist - in seiner Sehnsucht nach Stabilität.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.138837
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 30.11.2009
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.