Süddeutsche Zeitung

Russische Wirklichkeit:In zweifelhafter Verfassung

Lesezeit: 2 min

Sie galt als vorbildlich, doch die Wirklichkeit hat nichts mehr mit ihr zu tun: Die Russen feiern heute das 20-jährige Bestehen ihrer Verfassung. Präsident Putin würdigt sie in seiner Rede an die Nation, dabei ist das Dokument gerade unter ihm stetig ausgehöhlt worden. Russland ist keine Demokratie, sondern ein autoritärer Staat.

Ein Kommentar von Julian Hans, Moskau

Russland lässt seiner Verfassung eine Ehre zuteil werden, die besonders ist. Nicht viele Länder begehen den Tag, an dem sich das Volk sein oberstes Gesetz gegeben hat, als nationalen Feiertag. Zu ihrem 20-jährigen Jubiläum an diesem Donnerstag gibt es als besonderes Geschenk noch eine große Amnestie: 25.000 Menschen wird ihre Strafe erlassen.

Damit zeige der Staat sein humanes Wesen, erklärte Präsident Wladimir Putin. Doch der Verfassung, die gefeiert wird, geht es ein bisschen wie Oma, die zum Geburtstag Besuch im Altersheim bekommt: Die Gäste essen Torte und halten Reden, aber jeder weiß, dass Oma nicht mehr viel zu sagen hat.

Dabei war sie mal jung und schön. Besonders die ersten beiden Kapitel, die die Grundrechte enthalten, loben Staatsrechtler als vorbildlich und als zum Teil sogar weiter entwickelt als das deutsche Grundgesetz. Nur war diese Schönheit von Anfang an begleitet von einer Schwäche: den Bestimmungen zur Organisation des Staates in den folgenden Kapiteln.

Sie haben es erlaubt, dass die Wirklichkeit im russischen Staat heute nicht mehr viel zu tun hat mit dem, was auf dem Papier steht. Laut einer Umfrage des unabhängigen Levada-Instituts finden 60 Prozent der Russen, dass die Regierung die Verfassung nur teilweise oder überhaupt nicht beachtet.

Kreml schürt Ängste

Seit Putins Amtsantritt 2000 ist die Verfassung Schritt für Schritt ausgehöhlt worden. Sie musste nicht einmal geändert werden, um bedeutungslos zu werden. Heute steht anstelle der in den Artikeln 10 und 11 verbürgten horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung die Putin'sche Machtvertikale.

Anstelle einer Demokratie, wie sie in der Verfassung steht, gibt es nun die sogenannte souveräne Demokratie, eine Wortschöpfung des Spin-Doktors Wladislaw Surkow, die nur ein Ziel hat: die Wahrheit zu verschleiern, dass Russland heute ein autoritärer, von einem Mann und seinem Umfeld gelenkter Staat ist.

Möglich wurde das wegen zwei Ängsten, die der Kreml lebendig hält, um seine Machtkonzentration zu rechtfertigen: der Angst, die Russische Föderation könnte ein Schicksal erleiden wie die Sowjetunion und sich in ihre Teile zerlegen; und der Angst vor dem Chaos, das herrschte, als sich in den Neunzigerjahren unterschiedliche Machtzentren bekriegten.

Wegen dieser Ängste haben das Volk und die Verfassungsrichter immer wieder darauf verzichtet, Einspruch einzulegen. Etwa als Putin nach der Geiselnahme von Beslan die Direktwahl der Gouverneure abschaffte.

Probleme postsowjetischer Staaten

Derzeit ist der nächste Schritt zur Bündelung der Macht in Arbeit. Erstmals soll dazu auch die Verfassung geändert werden. Seit November ist die Duma dabei, auf Putins Geheiß das höchste Wirtschaftsgericht mit dem Obersten Gericht zusammenzuführen, "um das Rechtssystem der Russischen Föderation zu vervollkommnen und seine Einheit zu stärken", wie die offizielle Begründung lautet.

Nach der Auflösung der Sowjetunion hatte das junge Russland eine eigene, dreistufige Wirtschaftsjustiz aufgebaut, die die Einhaltung der neuen Spielregeln im Kapitalismus überwachen sollte. Während die ordentlichen Zivil- und Strafgerichte nach wie vor als beeinflussbar von Geld und Staatsmacht gelten, haben die Wirtschaftsgerichte den Ruf erworben, nach rechtsstaatlichen Kriterien zu arbeiten. Nun wird das weitgehend saubere System mit dem korrupten verschmolzen.

Das Nebeneinander geschriebener und ungeschriebener Gesetze ist eines der großen Probleme aller postsowjetischen Staaten. Deshalb dient die östliche Partnerschaft der EU nicht nur einer banalen Erweiterung des Wirtschaftsraumes, sondern zielt auch darauf ab, einen funktionierenden Rechtsstaat aufzubauen. Die Auseinandersetzungen in der Ukraine zeigen, wie hart die Widerstände sind.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1841825
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.12.2013
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.