Süddeutsche Zeitung

Proteste in Frankreich:Sogar Lady Gaga sagt ab

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Schüler toben auf der Straße, Lkw-Fahrer blockieren den Verkehr, Diesel ist begehrter als Champagner: Der Kampf der Franzosen gegen ihre Regierung steuert auf die Entscheidung zu.

Stefan Ulrich, Paris

Das Duell um Frankreichs Zukunft zwischen Nicolas Sarkozy und der Protestfront wird dramatisch. Ein Land spielt verrückt. Lady Gaga lässt in Paris ihre Konzerte absagen, weil die Lastwagen für ihre Auftritte nicht mehr durchkommen. Soldaten schaufeln in Marseille mit Schutzmasken faulenden Abfall fort, da die Müllmänner streiken und die Stadt ihre Kehrseite zeigt.

Die Abgeordneten kürzen ihre eigenen Renten, um das Volk zu besänftigen - wann hat es das je gegeben? Die Bürger, die am Wochenende in den Allerheiligen-Urlaub fahren möchten, müssen sich fragen: Wie soll es weitergehen, wenn nichts mehr geht? Die Bahn wird bestreikt. Demonstranten besetzen spontan Flughäfen. Diesel ist begehrter als Champagner.

Selbst der sonst so energetische Präsident hat seine Spannkraft verloren. Bei seinen Auftritten lässt er jetzt manchmal den Kopf hängen. Gebrochen aber ist er nicht. Nur müde, von seinen vielen Überstunden. Obwohl am Donnerstag schon wieder Abertausende Schüler fröhlich gegen Sarkozy anjohlend durch Paris ziehen, während die Gewerkschafter Raffinerien und Treibstoffdepots blockieren, wähnt er sich fast im Ziel. Spätestens diesen Freitagnachmittag soll der Senat die Rentenreform beschließen. Kommenden Mittwoch könnten dann beide Kammern des Parlaments zur Schlussabstimmung schreiten. Das umtobte Gesetz wäre durch. Dies und die Ferien werden die Franzosen beruhigen. Hofft Sarkozy.

Seine Gegner - Schüler, Studenten, Arbeiter, die Opposition und die derzeit herrschende Volksmeinung - versuchen, den Plan zu durchkreuzen. So kommt es zum Wettlauf zwischen den Massen auf den Plätzen und den Mächtigen in den Palästen. Im Élysée beruft Sarkozy täglich eine Art Kriegskabinett ein.

Schräg gegenüber, im Untergeschoss des Innenministeriums, werten zehn Beamte eines Krisenstabes 24Stunden am Tag die Nachrichten von der Treibstofffront aus. Drüben, auf dem anderen Ufer der Seine, im Palais du Luxembourg, liefern sich die Abgeordneten letzte Wortgefechte. Sondereinheiten der Polizei müssen das barocke Schlösschen vor tobenden Schülern schützen. Die Entscheidung naht.

Während die Gesichtszüge des Präsidenten immer schärfer werden, bleibt das Profil seiner Gegner verschwommen. Weder traditionelle Gewerkschaftsführer wie Bernard Thibault noch die sozialistischen Damen Martine Aubry und Ségolène Royal sind zum Gesicht dieses Aufstands geworden. Wenn Sarkozy auf sein Land schaut, sieht er Heerscharen friedlicher Demonstranten und einige Tausend Gewalttäter, die mit Kapuzenpullovern durch den Qualm brennender Autos in Nanterre hasten oder auf der Place Bellecour von Lyon unter den Augen eines bronzenen Sonnenkönigs mit roboterhaft aussehenden Spezialpolizisten kämpfen.

Viele der Streiks, Demos, Blockaden werden nicht mehr von Gewerkschaften und Parteien geplant. Sie ziehen überraschend auf wie Gewitterwolken an einem heißen Sommertag. Das macht es für die Regierung so schwer zu reagieren. Die Schüler nutzen die neuen Medien, um sich blitzschnell zu verabreden. "Wir haben die Blockade unseres Gymnasiums organisiert, indem wir uns SMS schickten und eine Facebook-Seite schufen", erzählt ein Junge namens Jules aus dem Ort Corbeil. Als er seine Mutter von der Blockade informierte, habe diese per SMS geantwortet: "Endlich!"

Auch Victor Colombani kann auf das Verständnis seiner Eltern bauen, während er Aufmärsche organisiert. "Sie haben nichts gegen mein Engagement, aber wir haben eine Art Deal geschlossen", erzählt er den Journalisten auf der Straße. "Das ganze darf meine Studien nicht beeinträchtigen." Der 16 Jahre alte Colombani vom Pariser Gymnasium "Henri IV" ist eine der neuen Führungsfiguren, die in dem Protestgewimmel sichtbar werden. Seit Anfang Oktober dirigiert er die nationale Gymnasiasten-Gewerkschaft UNL. Nun hat er gleich solch einen Auftritt. An seine Mitschüler appelliert er: "Die Gymnasiasten müssen so weit wie möglich gehen, damit sich die Regierung beugt." Schüler, Raffinerie-Arbeiter und Lastwagenfahrer säßen in einem Boot. "Alle zusammen machen wir der Regierung Angst."

Dabei sieht der schmächtige, ordentlich gekleidete Junge mit dem "Eastpak"-Rucksack gar nicht so furchterregend aus. Er würde auch in die Jugend von Sarkozys konservativer UMP-Partei passen. Doch Colombani hat es in sich. Der Präsident möge nicht glauben, sich in die Allerheiligen-Ferien zu retten. "Wir werden auch danach noch da sein."

Der Kampfgeist der Jungen, das ist das eine, was Sarkozy unterschätzt hat. Das andere sind die Mitarbeiter der Erdölindustrie. Bei früheren Protestwellen nutzten die Gewerkschaften ihre Macht über den Zug- und öffentlichen Nahverkehr, um Frankreich zu lähmen. Sarkozy hat ihnen mit einem Gesetz über einen garantierten Mindestbetrieb diesen Weg verbaut. Dafür drehen ihm die Gewerkschafter jetzt den Treibstoff ab. Der Präsident hat zwar befohlen, alle Depots freizuräumen. Doch das ist auch am Donnerstag nicht gelungen. Zudem stehen sämtliche zwölf Raffinerien des Landes weiterhin still.

Zu verdanken hat Sarkozy dies Charles Foulard. Der massige Mann mit dem Nussknacker-Kinn und den grimmig dreinblickenden Augen ist das robuste Pendant zum zarten Colombani. Nacht für Nacht steht der 53 Jahre alte Foulard mit seiner roten Wollmütze vor der Raffinerie von Grandpuits, die in normalen Zeiten Paris mit Treibstoff versorgt. Der Schein brennender Reifen und Holzbarrikaden erleuchtet sein Gesicht. Alle Raffinerien blockiert - "so etwas gab es noch nie seit 1968", freut er sich.

Charly, wie ihn Freunde nennen, hat einst als Feuerwehrmann angefangen. Nun heizt er Sarkozy ein. Foulard ist in der großen Gewerkschaft CGT für die Erdölbranche zuständig. Zudem führt er die CGT-Mitglieder des Total-Konzerns. Er gilt als Hardliner, als einer, der um des Kämpfens willen kämpft, wie Kritiker in seinem eigenen Lager meinen. Doch nicht der gemäßigte CGT-Vorsitzende Thibault, sondern Foulard gibt derzeit den Ton an. Im Rentenstreit sei es an der Zeit, einen Gang hoch zu schalten, findet er. Der Streik müsse unbedingt durchgehalten werden.

Geht es nach dem Mann mit der Mütze, stehen bald alle Räder in Frankreich still. Doch das bedeutet nicht unbedingt, dass sich dann Sarkozy bewegt und die Anhebung des Rentenalters zurücknimmt. Womöglich passiert etwas anderes. Die Stimmung im Volk könnte kippen und sich gegen die Protestierer wenden. Schon jetzt leiden die meisten Bürger unter den Verhältnissen. Jeder erlebt das in seinem Umfeld.

Anne-Marie und Jean-Paul im Nachbarhaus etwa müssen jeden Morgen ausdiskutieren, wer mit dem Benzin getriebenen Wagen zur Arbeit fahren darf. Das Diesel-Auto liegt ja still. Jérôme, der ein Haus weiter lebt, nützt jetzt öfter sein Rad mit Elektro-Hilfsmotor. Die Eltern mit den kleinen Kindern gegenüber trauen sich gar nicht mehr, Auto zu fahren. Das ist lästig im eng verplanten Arbeitsalltag der französischen Familien. Doch es lässt sich eine Weile verschmerzen. Wenn nun aber noch der Allerheiligen-Urlaub ausfallen muss, wird es richtig ärgerlich.

Noch richtet sich aller Unmut gegen Sarkozy. Noch applaudieren die Bürger, wenn die Gewerkschaften am Donnerstag zum nächsten Protest in der kommenden Woche aufrufen. Doch es gibt auch warnende Stimmen in der Revolte. Gymnasiasten-Führer Colombani meint, wenn die Demos in Gewalt ausarteten, könne das am Ende dem Präsidenten nutzen. "Wir dürfen nicht in die Gewaltfalle tappen", mahnt er seine Schüler. Und Sarkozy? Der sagte am Donnerstag, Ausschreitungen wie in Lyon seien skandalös. "Die Gewalttäter werden nicht das letzte Wort behalten."

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Quelle:
SZ vom 22.10.2010
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