Süddeutsche Zeitung

Das Politische Buch:Staat oder Markt?

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Der Sozialwissenschaftler Tim Engartner und der Politiker Wolfgang Kubicki diskutieren über Vor- und Nachteile von Privatisierungen. Einer kann mehr überzeugen.

Rezension von Cord Aschenbrenner

Gute Idee, die der kleine Westend-Verlag da hatte: in der rauflustigen, leicht erregbaren deutschen Gegenwart eine Buchreihe namens "Streitfrage" zu etablieren. Anders als bei Twitter, wo man sich ja gerne hemmungslos und meist ohne tiefere Kenntnis des Gegenstands in die Haare gerät, geht es hier friedlich, mehr oder weniger durchdacht und zudem deutlich besser lesbar zu. Das liegt an der altmodischen Darreichungsform, die Bücher nun einmal haben, es stehen sich auch nur zwei Kontrahenten gegenüber. Im vorliegenden Fall geht es um Privatisierung, deren Für und Wider der FDP-Politiker und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki und der an der Universität Köln lehrende Sozialwissenschaftler Tim Engartner erörtern. Verfasst haben sie ihren Essay, ohne den des anderen zu kennen.

Kubicki schreibt, Privatisierungen von Unternehmen seien "weder prinzipiell gut, noch sind sie schlecht", wohl aber bisweilen notwendig. Als Beispiel für eine solche Notwendigkeit dient ihm der "durchaus unerquickliche" Rückblick auf die gigantische Privatisierung der DDR-Staatswirtschaft seit 1990, deren negative Folgen wie Massenarbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven der Menschen und daraus resultierende Phänomene wie Frustration und Fremdenhass Kubicki nicht verschweigt. Es sei "nicht alles schlecht" gewesen, aber einfältig sei es, bei diesem Thema "keine Schattierungen zuzulassen".

Es sind friedfertige Worte aus der Feder des notorischen Polemikers Kubicki, und mild ist auch seine Darstellung der aus seiner Sicht gelungenen Privatisierungen der Deutschen Bundespost und der Lufthansa. Er erwähnt aber auch das Beispiel der Berliner Wasserversorgung, die von der Stadt verkauft - und zurückgekauft wurde, mit teuren Folgen für die Wasserverbraucher. Am Ende seines Beitrags heißt es: "Gelingen Privatisierungen, dann erhöhen sich die Chancen und Möglichkeiten aller." Aller? Nun, solange sie jedenfalls "Konsumenten" und "Marktteilnehmer" sind.

1,2 Millionen Arbeitsverhältnisse gingen verloren

Tim Engartner hat schon vor einigen Jahren ein furioses Plädoyer gegen Privatisierung gehalten. "Privatisierungen", schreibt er nun, als sei er Kubickis kritisches Echo, "werden stets von dem Versprechen begleitet, alle Mitglieder der Gesellschaft würden dadurch gewinnen und keines etwas verlieren." Aber so ist es eben nicht: Durch die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur seien, so Engartner, allein in den vergangenen 25 Jahren mehr als 1,2 Millionen Arbeitsverhältnisse vernichtet worden. Privatisierte Abfall-, Energie- und Wasserversorgung lassen die Preise manchmal bis aufs Dreifache ansteigen. Engartner, dessen Beitrag fundierter und auch engagierter wirkt - was die gesellschaftlichen Folgen von Privatisierungspolitik betrifft - als der von Kubicki, hofft nach der Corona-Krise mit ihren massiven Interventionen des Staates auf dessen Renaissance. Zum Wohl auch der Schwachen, nicht nur der Marktteilnehmer.

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