Süddeutsche Zeitung

Tschechien unter NS-Herrschaft:Mosaik der Unterdrückung

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Der Autor Jiří Padevět hat ein wichtiges Nachschlagewerk über Prag unter der brutalen deutschen Besatzung erarbeitet.

Rezension von Viktoria Großmann

Auch außerhalb des historischen Zentrums von Prag hängen an vielen Wänden Gedenktafeln, oft an unscheinbaren Wohnhäusern. Erinnert wird auf ihnen an Menschen, die in jenen Häusern gewohnt, sich versteckt oder geheime Treffen abgehalten hatten. Und die dann in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen erschossen wurden.

So wie Jiří und Jan Jesenský und dessen Frau Alžběta. Sie halfen Widerstandskämpfern, unter ihnen Jan Kubiš und Jozef Gabčík, die am 27. Mai 1942 das tödliche Attentat auf Reinhard Heydrich ausführten.

Die Nazis rächten sich nicht nur an den Attentätern und ihren Helfern für den Tod des stellvertretende Reichsprotektors. Sie ermordeten auch fast alle Einwohner der Dörfer Lidice und Ležáky sowie zahlreiche weitere Menschen. Die Jesenskýs starben im KZ.

Der Autor Jiří Padevět hat nun in seinem Buch "Prag 1939 - 1945, Unter deutscher Besatzung" alle diese Orte, an denen versteckt, verraten, verhört wurde, akribisch kartiert. Ereignisse hat er Straßen und Hausnummern zugeordnet und so einen historischen Stadtführer geschaffen. Der mit seinen mehr als 700 Seiten, ergänzt durch Karten und Dokumente, allerdings zu groß und zu schwer ist, um ihn auf einen Stadtbummel mitzunehmen.

Allein zur nur etwa 800 Meter langen Národní třída, der Nationalstraße im Zentrum von Prag, gibt es zwölf Einträge. Angefangen beim Nationaltheater, das am Moldauufer thront und in dem Goebbels eine Smetana-Oper besuchte. Nur wenige Hausnummern entfernt traf sich eine antisemitische Partei tschechischer Kollaborateure und in nächster Nachbarschaft wieder hielt ein jüdischer Unternehmer Verbindungen zum Widerstand und zum britischen Geheimdienst.

Widerstand und Kollaboration lagen oft nah beinander

Padevět zeigt, wie weitverzweigt der Widerstand war, der in dem blutigen Aufstand im Mai 1945 kulminierte. Andererseits aber auch, wie nah Widerstand und Kollaboration nicht nur räumlich, sondern auch persönlich oft beieinander lagen. Was dem Buch jedoch zumindest aus deutscher Sicht fehlt, sind nähere Erklärungen und Einordnungen.

Die traurige Erkenntnis von Padevěts Buch ist: Obwohl es von deutscher Geschichte handelt, ist es für deutsche Leser kaum geeignet. Deutsche und Tschechen teilen gemeinsame Geschichte, aber kaum gemeinsame Erinnerung. Daten und Namen, die im tschechischen, kollektiven Gedächtnis fest verankert sind und vielleicht auch deshalb im Buch nicht weiter erklärt werden, etwa die der Heydrich-Attentäter, hat in Deutschland nicht jeder parat.

Und der 2011 verstorbene, frühere Staatspräsident Václav Havel ist in Deutschland zwar hoch angesehen, aber dass sein Vater Václav Maria, sein Onkel aber Miloš hieß, weiß auch nur das tschechische Wikipedia. Padevěts Personenregister gibt keinerlei Hinweis auf die Verwandtschaft - und damit auch nicht darauf, dass der spätere Gegner der folgenden Diktatur als zweijähriges Kind wohl anwesend war, als die Gestapo im Juni 1939 das großbürgerliche Haus der Havels am Moldauufer durchsuchte.

In seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt der Autor, das Buch versuche, "sich den Schicksalen der einfachen Leute zu nähern". Doch gerade die Geschichten hinter den Hausnummern fehlen.

Der Eintrag zur Národní třída 339/11 lautet lapidar: "Redaktionssitz der Zeitung Přítomnost, Gegenwart, Ferdinand Peroutka hatte hier bis zu seiner Abberufung sein Büro, und auch Milena Jesenská arbeitete hier." Wer diese beiden Journalisten waren, welche große Bedeutung sie bis heute haben, erfährt man im Buch nicht.

Peroutka, so viel wird klar, wurde kurz nach dem Verbot der Zeitschrift 1939 verhaftet und überlebte den Krieg in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald. Zu ergänzen wäre: Seine Zeitschrift war ein Aushängeschild der weltoffenen, modernen Demokratie der ersten tschechoslowakischen Republik. Peroutka wird bis heute verehrt.

Milena Jesenská, im Buch nur als "Journalistin, Fluchthelferin" vorgestellt, ohne Lebensdaten, ist in Deutschland vor allem als Brieffreundin Franz Kafkas bekannt. Sie starb 1944 im KZ Ravensbrück. Jiří und Jan Jesenský waren ihre Cousins.

Preisgekrönt - aber kein Einsteigerwerk

Einordnung bietet mit seinem Vorwort für das in Tschechien preisgekrönte Werk der Historiker René Küppers, der hofft, Padevěts Buch könne "das Wissen eines breiteren deutschen Publikums darüber vermehren, was die deutsche Besatzung für die tschechische Bevölkerung bedeutete".

Dafür gibt es wohl kompaktere und geeignetere Werke. Etwa die verschiedenen Biografien über Milena Jesenská sowie deren gesammelte Artikel.

Auch das gerade im Prager Vitalis-Verlag erschienene Buch "Prag empfing uns als Verwandte - Die Familie Mann und die Tschechen" des ARD-Korrespondenten Peter Lange lässt die Bedeutung der Tschechoslowakei und Prags als Zufluchtsort deutscher Intellektueller in den Dreißigerjahren lebendig werden - und auch das Drama der Zerschlagung der jungen Republik.

Padevět hat ein Grundlagenwerk geschaffen, dessen Übertragung ins Deutsche notwendig war und das in die Bibliotheken gehört. Ein Einsteigerwerk für den Hausgebrauch ist es nicht.

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SZ vom 06.04.2021
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