Süddeutsche Zeitung

Polen:Baum der Erkenntnis

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Die Russen, scherzen polnische Obstbauern, mögen ihre Äpfel wie die Sowjetunion: riesig und rot. Jahrelang beliefern sie Moskau. Doch dann kommt der Ukraine-Krieg - und den Bauern vergeht das Lachen.

Von Florian Hassel, Jasieniec

Dass sie einmal über eine Rekordernte klagen würden, hätten sich die Obstbauern Sławomir und Małgorzata Zieliński nicht träumen lassen. Lange liefen die Geschäfte glänzend für die Zielińskis und ihre Kollegen in Grójec, einer Obstbauregion südlich von Warschau. Das Ehepaar kaufte einen Hof im Dorf Jasieniec, baute ein Haus für sich und die beiden Kinder, und Sławomir Zieliński legte weitere Obsthaine an - Äpfel für Russland.

Doch 2014 begann Moskau seinen Krieg in der Ukraine. Die EU verhängte Sanktionen gegen Russland, Moskau verbot als Antwort die Einfuhr vieler Lebensmittel aus der EU. Wenige traf dies so hart wie Polens knapp 150 000 Obstbauern. "Wir haben alles auf Russland ausgerichtet und dorthin fast zwei Drittel unserer Äpfel verkauft", sagt der 44 Jahre alte Zieliński. "Das Embargo hat uns von einem Tag auf den anderen den Boden unter den Füßen weggezogen."

Der antirussische Kurs der Regierung macht es den Apfelbauern noch schwerer

Kein Wunder: Polens Obstbauern ernten so viele Äpfel wie niemand sonst in Europa - und nirgendwohin verkauften sie in den vergangenen Jahren so viel wie nach Russland. "Allein aus Grójec fuhren jeden Tag 300 Lastwagen", sagt Mirosław Maliszewski, Vorsitzender des Verbandes polnischer Obstbauern. Im August 2014 kam der Einfuhrstopp.

Am Anfang fuhren viele Lkws weiter nach Russland: mit Zollpapieren, die die polnischen Äpfel zu serbischem, weißrussischem oder gar kasachischem Obst erklärten - gepflückt bei Moskauer Verbündeten also. Die Umwidmung ihrer Äpfel kostete die polnischen Obstbauern bis zu 1000 Euro Aufschlag pro Lkw. Bald jedoch fiel der Betrug auf. "In dieser Saison geht so gut wie nichts mehr", sagt Apfelbauer Zieliński. Polnische Äpfel, die es noch über die Grenze schaffen, werden von der russischen Lebensmittelaufsicht oft beschlagnahmt und plattgewalzt, oder, wie bei Murmansk, kurzerhand im Tierkrematorium eingeäschert.

Zum Einfuhrstopp kommt eine Rekordernte: Polens Bauern werden der EU zufolge in dieser Saison vier Millionen Tonnen Äpfel ernten. Der Rekord drückt die ohnehin gefallenen Preise weiter. Vor dem Embargo hätte er für ein Kilo Äpfel in Russland bis zu 3 Złoty (0,75 Euro) bekommen, sagt Zieliński. "Jetzt bringen selbst die besten Äpfel oft nur einen halben Złoty." Seit Russland für sie geschlossen ist, schreiben die Zielińskis rote Zahlen. Der eigentlich als Küche geplante Raum neben dem Wohnzimmer steht bis heute leer - die Familie hat kein Geld für den Ausbau.

Sławomir Zieliński geht durch seine Apfelhaine. "Hier, das sind Celesta-Äpfel, dahinten steht Sunrise. Die Russen haben uns die Äpfel aus der Hand gerissen." Jetzt aber geht es den Bäumen an die Wurzel, denn: "Apfelsorten, die die Russen mögen, können wir in anderen Ländern kaum verkaufen." Vor Kurzem hat Zieliński sein letztes Geld ausgegeben und ein paar Hektar mit in der EU gängigen Sorten wie Gala bepflanzt.

Ein paar Kilometer weiter fährt ein anderer Apfelbauer beim Großhandel Fresh Fruit Services vor. "Könnt Ihr mir schnell 20 Tonnen abnehmen?", fragt er den Firmenchef Marcin Hermanowicz. "Ich gebe sie euch billiger, wenn ihr mir das Geld noch heute geben könnt. Ich muss morgen eine Kreditrate bezahlen." Später sagt Hermanowicz: "Kollegen wie er kommen jetzt fast jeden Tag - die Hauptsache für sie ist, dass sie sofort Geld bekommen." Tausende Obstbauern haben Kredite aufgenommen, um ihre Höfe zu modernisieren oder zu erweitern. Auch Zieliński. Im Dezember muss er seiner Bank umgerechnet 4650 Euro zurückzahlen. Geld, das er nicht hat. "Technisch gesehen sind wir fast bankrott", sagt Zieliński. "Das einzig Gute: Fast allen anderen hier geht es genauso - deshalb sind die Banken bereit, Kredite zu verlängern. Aber sicherlich nicht ewig."

Im September forderten Zieliński und seine Kollegen bei einer Demo vor dem Landwirtschaftsministerium, die Apfelnachfrage mit EU-Geld zu stützen. Erfolg hatten sie damit nicht. Verbandschef Maliszewski flog sogar nach Moskau, um nachzufragen, ob das Embargo nicht aufzuheben sei. "Es liegt an euch Polen!", bekam er zur Antwort. "Ändert eure Politik und hört auf, uns als eure Feinde zu betrachten!"

Doch mit ihrer Forderung, Polens Regierung möge mit dem Kreml verhandeln, finden die Obstbauern kein Gehör - und dies nicht nur, weil die EU-Sanktionen gegen Russland weiterlaufen und das Verhältnis zu Moskau wegen seiner Rolle in der Ostukraine und Syrien getrübt ist. "Die Politik unserer Regierung ist auf weiteren Konflikt mit Russland ausgelegt", sagt Maliszewski, der auch Parlamentsabgeordneter für Polens Bauernpartei ist. Kürzlich stoppte die Regierung auch den zollfreien Grenzverkehr mit der russischen Exklave Kaliningrad. Und in Polens Kinos läuft gerade "Smolensk". Der Propagandafilm legt - den offiziellen Untersuchungsergebnissen zum Trotz - nahe, der Kreml habe 2010 den damaligen polnischen Präsidenten Lech Kaczyński durch einen Anschlag auf das Präsidentenflugzeug ermordet.

"Wir Obstbauern gelten dieser Regierung schon nicht mehr als echte Polen, weil wir unsere Äpfel nach Russland verkaufen wollen", sagt Zieliński. Seine Frau Małgorzata ergänzt: "Patriotismus ist eine Sache - unsere Kredite eine andere!"

Die Antwort der polnischen Regierung: Die Obstbauern sollten sich neue Märkte suchen - etwa China, dessen Bürger weit über die Hälfte aller weltweit gepflückten Äpfel verspeisen. Doch der Teufel steckt im Detail. "Um unsere Äpfel nach China zu schicken, bräuchten wir viele Dokumente, Kontrollzertifikate und Hunderte spezieller Container und Waggons, die wir schlicht nicht haben", sagt Verbandspräsident Maliszewski. "Klar, auf mittlere Sicht ist China ein Riesenmarkt. Aber ihn zu erobern, dauert Jahre."

Schnell umsteuern können vor allem große Obstbauern. Großmarkt-Inhaber Marcin Hermanowicz und zwei Geschwister verkaufen jährlich nicht nur Tausende Tonnen Äpfel, sondern sind selbst in vierter Generation Apfelbauern. Die ungebrochene Familientradition verdanken sie dem Umstand, dass die polnischen Kommunisten - als Einzige im Ostblock - Bauernhöfe bis zu einer Größe von 50 Hektar nicht verstaatlichten. Außerdem ging es Apfelbauern schon im Kommunismus nicht schlecht: Weil es an anderen Früchten fehlte, war der Apfel König. Außer in Polen verkaufte die Familie Hermanowicz ihre Äpfel auch nach Moskau. "Wir scherzten, die Russen mögen ihre Äpfel wie die Sowjetunion: riesig und rot!", sagt Marcin Hermanowicz. In Russland schneide eine Mutter den Apfel in Stücke und stelle ihn für alle auf den Tisch, erzählt er. In England dagegen, wo die Hermanowicz-Familie seit dem EU-Beitritt die meisten Äpfel verkauft, essen die Leute ihre Äpfel am Stück und wollen kleinere Sorten. "Kulturelle Unterschiede sind auch für Apfelbauern wichtig."

Was noch geht: Apfelwein. Alkohol steht nicht auf Putins Embargo-Liste

Seit aber die Engländer für den Brexit gestimmt haben, wissen die Hermanowicz nicht, wie es weitergeht mit ihrem Geschäft auf der Insel. Bald wird es Zölle und Kontrollen geben - alles, was es heute nicht gibt. "Meine englischen Apfelbauernkollegen sind auch unglücklich: Sie lassen ihre Äpfel vor allem von polnischen Erntehelfern pflücken, von denen sie nicht wissen, ob sie bald noch ins Land dürfen."

Die Familie sieht sich deshalb anderweitig um. Ein paar Tonnen hat sie schon nach Hongkong und Indien verschifft. Vor der Lagerhalle lädt ein Lastwagen gerade 20 Tonnen Äpfel, die nach Dubai gehen. Auch das Emirat Katar kauft die Äpfel der Familie. Marcins Geschwister waren schon mehrmals in Japan - dorthin verkaufen sie nun auch Blaubeeren. Und mit einem Freund stellt Marcin Hermanowicz Apfelwein her. Den verkauft er an In-Bars in Warschau, kürzlich hat Hermanowicz auch nach Moskau 5000 Flaschen Apfelwein geschickt. Keine vier Wochen später kam die nächste Bestellung. "Wir Polen dürfen den Russen zwar unsere Äpfel nicht verkaufen", sagt der Apfelbauer. "Aber Alkohol steht nicht auf Putins Embargoliste."

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Quelle:
SZ vom 22.10.2016
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