Süddeutsche Zeitung

Österreich-Kolumne:Ohne Schutz

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Der Tod von Dr. Lisa-Maria Kellermayr zeigt, wohin Hass im Netz führen kann. Mehrere prominente Twitter-Nutzer haben sich nun zurückgezogen. Warum Schweigen die falsche Antwort auf Häme, Hass und Hetze ist.

Von Ralf Wiegand

Manchmal kennt man Menschen nicht, ist ihnen nie begegnet - und trotzdem fühlt man sich ihnen sehr nahe. Lisa-Maria Kellermayr war so ein Mensch. Die wenigsten, die ihren Tod betrauern, dürften ihr persönlich begegnet sein, nur wenige werden Patientin oder Patient in ihrer Praxis, Verzeihung: Ordination, gewesen sein. In Seewalchen am Attersee wohnen kaum 6000 Menschen. Das Entsetzen über den Tod von Lisa-Maria Kellermayr erfasste aber ganz Österreich, das Wiener Regierungsviertel, sogar deutsche Minister in Berlin äußerten Erschütterung. Und viele Tausend Menschen, die Kellermayrs Geschichte dort gelesen haben, wo die Ärztin einen Teil ihrer Bekanntheit erworben hatte: auf Twitter.

Medien sind angehalten, sie haben sich sogar selbst dazu verpflichtet, über Selbsttötungen nur in absoluten Ausnahmefällen zu berichten. Der Fall Kellermayr ist ein solcher, denn wie sie auf den virtuellen Scheiterhaufen geführt wurde, als "Impf-Hexe", das konnte man öffentlich mitlesen, das hat sie selbst auch öffentlich gemacht. Ihre Tweets erzählten von Morddrohungen, die ihr per E-Mail in die Praxis geschickt worden sind, von Übergriffen durch Impfgegner, die sie unter dem Vorwand, Patient zu sein, besuchten, sie filmten, sie diffamierten, sie zur Symbolfigur machten für eine angeblich verfehlte Corona-Politik. Der grenzenlose Hass, den Lisa-Maria Kellermayr erfuhr, muss jeden nur halbwegs empathischen Menschen erschaudern lassen: Würde ich das aushalten?

Soziale Medien provozieren Reaktion und Gegenreaktion

Ich habe mir alles durchgelesen, was sie geschrieben hat, habe mir ihre verfügbaren Fernsehinterviews angeschaut, Texte über sie beschafft, mit Experten gesprochen. Mal davon abgesehen, dass auch die steilste These nicht rechtfertigt, jemandem mit Hinrichtung zu drohen und sie so einzuschüchtern, dass sie unter dem Druck der Verantwortung auch für ihre Mitarbeitenden die Praxis schließt und sich kaum noch nach draußen traut: Oft hat sie einfach nur reagiert, manchmal in ähnlichem Ton, in dem sie angegriffen wurde. Twitter, soziale Medien generell, provozieren Reaktion und Gegenreaktion, es ist eine Empörungsmaschine, deren Teil man wohl unweigerlich wird, wenn man dort einen Standpunkt vertritt. Nichts anderes hat die Ärztin gemacht, als einen Standpunkt zu vertreten: Covid-19 ist eine ernst zu nehmende Krankheit, Maßnahmen schützen.

Wer Hass im Netz streut, trifft damit nicht irgendeinen @-Account, sondern einen echten Menschen. Die Wirkung des schnell geschriebenen 280-Zeichen-Tweets ist vielen nicht bewusst - oder er ist ihnen gerade sehr bewusst, weswegen Strafverfolgungsbehörden Hass im Netz viel ernster nehmen sollten, als sie es tun. Am Donnerstag hat die Staatsanwaltschaft Wels wieder Ermittlungen aufgenommen, am Freitag meldete die Generalstaatsanwaltschaft München die Durchsuchung der Wohnung eines 59-jährigen Beschuldigten aus dem Landkreis Starnberg. Die Schutzlosigkeit gegenüber dem Hass hat in den vergangenen Tagen einige prominente Netzwerker von der Plattform Twitter vertrieben. Wenn aber Schweigen die Antwort ist auf Häme, Hass und Hetze - welche Gesellschaft wollen wir dann sein, ohne Menschen wie zum Beispiel Lisa-Maria Kellermayr?

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