Süddeutsche Zeitung

Nuklearwaffen:Wir können auch anders

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Indien und Pakistan besitzen Atomraketen. Doch die Logik der Abschreckung hat keinen Frieden geschaffen. Man führt Konflikte nur auf andere Weise.

Von Paul-Anton Krüger

Einen nuklearen Schlagabtausch vor Augen, haben die USA und die Sowjetunion im Kalten Krieg trotz harter Konkurrenz eine direkte Auseinandersetzung immer vermieden. Es gab Stellvertreterkriege, das Ringen um Einflusssphären, aber nie schossen GIs auf Sowjetsoldaten oder umgekehrt. Das Gleichgewicht des Schreckens schien zu funktionieren. Allein das Risiko eines Atomschlags wirke stabilisierend, so die Theorie der nuklearen Abschreckung. Umso mehr gilt das demnach, wenn sich keine Seite einen Vorteil vom Einsatz der Bombe erhoffen kann, weil die andere Seite in der Lage ist, atomare Vergeltung zu üben - was Militärplaner als gesicherte Zweitschlagsfähigkeit bezeichnen.

Ob diese Logik sich jedoch auf Indien und Pakistan übertragen lässt, ist äußerst umstritten. Bereits im Mai 1974 hatte Indien in der Operation Smiling Buddha eine erste Kernwaffe getestet. 1998 zündete das Land unter dem Codenamen Shakti Mitte Mai fünf weitere Sprengköpfe. Pakistan, das seit den Siebzigerjahren ein klandestines Atomwaffenprogramm aufgebaut hatte, zog am 28. Mai mit der simultanen Detonation von fünf Bomben nach.

Dessen ungeachtet führten sie nur ein Jahr später bereits wieder Krieg gegeneinander in der sogenannten Kargil-Krise, die nach dem gleichnamigen Distrikt im indisch kontrollierten Teil der umstrittenen Region Kaschmir benannt ist. Während der von Pakistan initiierten Auseinandersetzungen starben mehr als 1000 Soldaten.

Auch zwischen Nuklearstaaten hat es bereits Kriege gegeben

Pervez Musharraf, damals Pakistans Generalstabschef, der wenig später putschte, behauptet in seinen Memoiren, das Atomarsenal seines Landes sei damals nicht einsatzfähig gewesen. Es habe an geeigneten Raketen gefehlt. Allerdings hatten die US-Geheimdienste Informationen darüber, dass Pakistans Militär Atomwaffen Richtung Grenze verlegte. Premier Nawaz Sharif behauptetet, Musharraf habe dies ohne sein Einverständnis oder Wissen veranlasst. Indien soll seinerseits Sprengköpfe gefechtsbereit gemacht haben; Belege dafür gibt es nicht. Dies war nicht der erste direkte militärische Konflikt zwischen zwei Atommächten. 1969 hatten China und die Sowjetunion sieben Monate lang einen offiziell nie erklärten Grenzkrieg miteinander geführt, der sich an einer Insel im Grenzfluss Ussuri entzündet hatte.

Das alles rüttelt an der vermeintlichen Gewissheit, dass nukleare Abschreckung Stabilität schafft und führt zum Stabilität-Instabilität-Paradoxon. Es besagt, dass Nuklearmächte zwar einen Schlagabtausch mit Atomwaffen wegen der damit verbundenen verheerenden Folgen zu vermeiden suchen, die Bombe insofern stabilisierend wirkt. Zugleich begünstigt eine stabile Abschreckung aber begrenzte konventionelle Kriege und andere Formen der bewaffneten Auseinandersetzung - etwa die Unterstützung von Terroristen und Separatisten, wie sie Indien Pakistan vorwirft.

Vieles spricht dafür, dass weder Pakistan noch Indien Interesse daran haben, die Auseinandersetzung zu einem größeren Krieg zu eskalieren. Allerdings ist es eine offene Frage, ob sie die Dynamik des Konflikts unter Kontrolle behalten können - oder getrieben von einer Vergeltungslogik und von innenpolitischem Druck in eine Spirale geraten, die letztlich zu einem Atomkrieg führen könnte - ohne dass dies eine der Seiten tatsächlich wollte.

Rote Telefone zwischen Delhi und Islamabad gibt es nicht, man kappt im Streit eher die Drähte

Die Geschichte der Blockkonfrontation ist reich an warnenden Beispielen technischer und menschlicher Fehler. Von der Kubakrise 1962 bis hinein in die Zeit nach dem Kalten Krieg ist die Welt etliche Male vor allem durch Glück und mutige Menschen davor bewahrt worden, dass nach Hiroshima und Nagasaki noch einmal Atomwaffen zum Einsatz gekommen sind. Frühwarnsysteme hatten angeblich anfliegende Raketen detektiert, Manöver wurden fälschlich als beginnender Angriff interpretiert. Die Supermächte hatten nach der Kubakrise auf diese Gefahr reagiert, indem sie unter anderem ihre Kommunikationskanäle verbesserten, rote Telefone im Weißen Haus und im Kreml installierten. Indien und Pakistan tun sich schwer mit solchen deeskalierenden Maßnahmen. In Krisen kappen sie eher die Drähte. Dazu kommt, dass es zwischen der Sowjetunion und den USA keine Territorialkonflikte gab, während der Status von Kaschmir seit Jahrzehnten zentraler Streitpunkt ist zwischen Delhi und Islamabad.

Pakistan sieht sein Atomarsenal als Lebensversicherung, das die wachsende konventionelle Überlegenheit Indiens ausgleicht. Zugleich ist dieses Arsenal aber hoch verwundbar, als Trägersysteme stehen nur landgestützte ballistische Raketen kurzer und mittlerer Reichweite zur Verfügung sowie Marschflugkörper und Kampfjets; Indien besitzt dagegen U-Boot-gestützte Waffen und damit eine Zweitschlagsfähigkeit. Während Indien in seiner Nukleardoktrin ausschließt, als erste Konfliktpartei Atomwaffen einzusetzen, betrachtet Pakistan die Drohung mit der Bombe als Mittel, einen größeren konventionellen Vergeltungsschlag Indiens abzuschrecken - eine hoch riskante Strategie, auf die sich Islamabad weiter verlässt. Premier Imran Khan packte das in eine Frage an Indien: "Können wir uns, angesichts der Waffen, die wir haben, Fehlkalkulationen erlauben?"

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SZ vom 28.02.2019
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