Süddeutsche Zeitung

NSU-Prozess:Rätselhafte Kreuze auf angesengten Karten

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Die NSU-Terrorbande verzeichnete auf Landkarten ihre Ziele und mögliche Fluchtwege. Doch warum markierten sie eine Hühnerfarm und eine Kleingartensiedlung?

Von Annette Ramelsberger, München

Man fragt sich ja, womit sich drei erwachsene Menschen all die Jahre im Untergrund beschäftigt haben. Nur Radfahren, nur Fernsehen, nur lange Urlaube an der Ostsee - das kann es nicht gewesen sein. Und auch die aufwändige Arbeit am Bekennervideo des NSU hat nicht Jahre gedauert.

Wie sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ihre Zeit im Untergrund vertrieben, davon bekam man diese Woche eine Ahnung. Im Gericht wurden am Mittwoch und Donnerstag angekokelte Stadtpläne gezeigt, Karten von Stuttgart, Plauen, Greifswald, Chemnitz, Nürnberg und Kiel. Herausgezogen aus dem Brandschutt des Hauses, in dem Beate Zschäpe mit den beiden Männern gewohnt hatte.

Die Stadtpläne sind angesengt, durchtränkt von Löschwasser, aber lesbar. Und auf ihnen finden sich viele Kreuze, Kreise, Linien. Das Bundeskriminalamt hat sich Mühe gemacht, zu erkunden, was diese Markierungen bedeuten. Die Standorte von Banken und Sparkassen sind da eingezeichnet, dünne Linien, die von dort durch Parkanlagen führen, sehen wie der geplante Fluchtweg aus. Das ist noch einfach. Aber was bedeutet das Kreuz bei einer Hühnerfarm am Rande von Chemnitz? Die Markierung an einer Kleingartensiedlung? Die Zeichen in kleinen Dörfern mit nur ein paar Häusern?

Warum all die Markierungen in Dörfern rund um Chemnitz?

Die Polizisten haben mit dem Geschäftsführer der Hühnerfarm geredet, in den Kleingartenkolonien nach nicht genutzten Parzellen gefragt. Ergebnis: nichts. Sie können sich auch bis heute nicht erklären, warum auf den Stadtplänen ein kleines unscheinbares Denkmal für einen Widerstandkämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg markiert ist, ein 50 Zentimeter hoher Stein. Und auf keinen Fall wissen sie bisher, warum es so viele Markierungen in kleinen Dörfern rund um Chemnitz gab. In Orten, wo nichts verborgen bleibt. "Da fällt sofort auf, wenn man etwas macht, was man nicht machen sollte", sagt die ermittelnde Beamtin vom BKA. "Ich habe eine Bananenschale in den Mülleimer eines Hauses geworfen, da wurde ich sofort ermahnt."

Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren viel unterwegs, auf ausgedehnten Reisen durch Deutschland, ganz offensichtlich, um Tatorte auszuspähen. In Dortmund zum Beispiel. Dort haben sie über einen Stadtplan der Dortmunder Nordstadt geschrieben: "Wohngebiet wie Mülheim Köln." Für die BKA-Beamtin ist das ein "offensichtlicher Verweis auf die Keupstraße in Köln, wo es dann zu dem Anschlag gekommen ist". Dort verübte der NSU am 9. Juni 2004 ein Nagelbombenattentat mit 22 Verletzten.

Das BKA geht davon aus, dass auch eine Ausspähreise für einen Anschlag nach Dortmund unternommen wurde. Dort wurde am 4. April 2006 der Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık ermordet. Zuvor schon hatten die Männer vom NSU ein Ziel in der Nähe gefunden, an der Kreuzung Uhland- und Goethestraße. Auf ihre Karten notierten sie: "Gutes Objekt und geeigneter Inhaber". Aber auch die Büros von Landtagsabgeordneten zeichneten sie ein und notierten, dass dort nur eine Frau sitze. Die Notizen wurden von Böhnhardt oder Mundlos am 28. März und am 3. April 2006 ausgedruckt - unmittelbar vor dem Mord an Mehmet Kubaşık am 4. April.

Die Karten, sagt die Beamtin, wurden "mit leicht überwiegender Wahrscheinlichkeit" von Uwe Mundlos beschriftet.

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