NSU-Prozess:Kampf um die Deutungshoheit
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Aus dem Gerichtssaal von Tanjev Schultz, München
Auf der Zuschauertribüne haben sich die Reihen bereits gelichtet, als die Bundesanwälte im NSU-Prozess einen großen Auftritt haben. Eigentlich melden sie sich selten und meist nur kurz zu Wort. Diesmal ist es anders. Ungewöhnlich ausführlich und ungewöhnlich scharf lehnen die Ankläger fünf Beweisanträge ab. Was wie eine öde Formalie klingt, ist in Wahrheit brisanter Stoff. Es geht um den NSU-Mord in Kassel - und die vielen Theorien, die über diesen Fall kursieren.
Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel ermordet. Zur Tatzeit hielten sich fünf Kunden in dem Laden auf, darunter ein Beamter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz.
Dieser Mann - Andreas T. - meldete sich nicht als Zeuge bei der Polizei. So geriet er unter Mordverdacht. Die Ermittlungen gegen ihn wurden 2007 eingestellt. Die Bundesanwaltschaft ist sich sicher, dass die NSU-Terroristen die Mörder waren - und T. mit ihnen nichts zu tun hatte.
Würden die Beweisanträge stimmen, wäre dies eine Staatsaffäre
Die Anwälte der Familie Yozgat haben nun Beweisanträge gestellt, deren Inhalt zuvor schon durch die Medien gegangen war. Darin behaupten sie, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und insbesondere Andreas T. hätten "bereits vor dem Mord konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat" gehabt. Würde das stimmen, wäre dies eine Staatsaffäre - in einem Ausmaß, das alles, was bisher an Skandalösem rund um den NSU ans Licht kam, weit in den Schatten stellen würde.
Das erklärt die Vehemenz, mit der Bundesanwalt Herbert Diemer am 188. Verhandlungstag vor dem Oberlandesgericht München die Darstellung der Nebenkläger zurückweist. Er wirft ihnen eine mediale Inszenierung und eine verzerrende, selektive Interpretation von Beweismitteln vor. Welche Beweismittel? Gemeint sind Abschriften von Telefonaten, die T. im Jahr 2006 mit Kollegen führte. Die Polizei hatte seine Anschlüsse überwacht.
Wirbel löste ein Satz aus, den ein Geheimdienst-Mitarbeiter laut Protokoll am 9. Mai 2006 äußerte: "Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren."
Aus Sicht der Anwälte von Familie Yozgat ist das ein Beleg dafür, dass Andreas T. schon vor dem Mord wusste, "dass so etwas passiert". Diese Deutung halten die Bundesanwälte für falsch. Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten trägt vor, nichts in den abgehörten Gesprächen würde diese Version stützen. Vielmehr beziehe sich der Satz darauf, dass kein Verfassungsschutz-Mitarbeiter dem damals unter Verdacht stehenden Kollegen einen Besuch abgestattet habe.
Man darf davon ausgehen, dass sich die Bundesanwälte sehr sicher sind
Es wäre nicht nur peinlich, sondern ein Desaster für die Anklage, würde sich Weingartens Interpretation nicht bestätigen. Man darf davon ausgehen, dass sich die Bundesanwälte sehr sicher sind. Und die Protokolle enthalten, wenn man sie insgesamt betrachtet, tatsächlich keine Passagen, in denen die Rede davon wäre, dass T. oder das Landesamt vorab Informationen über den Mord gehabt hätten.
Im Übrigen, so Weingarten, sei T. von seinem ranghöheren Kollegen ausdrücklich dazu aufgefordert worden, alles zu sagen, was Sache war. An einer Stelle meint der Kollege: "Wenn man da nämlich anfängt, Geschichtchen drum zu stricken, die nicht stimmen, das platzt irgendwann auf." Und T. sagt, "irgendwas da rumzureden, hat überhaupt keinen Sinn".
Nachweislich surfte Andreas T. vor dem Mord im Internetcafé auf den Seiten eines Online-Flirtforums. Er war seit Längerem Kunde in dem Laden und besuchte regelmäßig auch andere Internetcafés. Dass er online Kontakt zu Frauen suchte, war für den Beamten schwer einzugestehen, da er verheiratet war und seine Frau schwanger zu Hause saß. Bis heute ist nicht klar, ob er sich in dem Moment, in dem die Schüsse fielen, noch in dem Laden aufhielt.
Er hat immer wieder beteuert, weder die Täter noch die Leiche gesehen zu haben. Von den Zeitabläufen her ist es theoretisch möglich, dass er das Internetcafé schon verlassen hatte. Es wäre jedoch unerklärlich, wo sich dann Halit Yozgat befunden haben soll. Weil er ihn nicht gefunden habe, legte Andreas T. 50 Cent auf einen Schreibtisch.
Sollte Halit Yozgat zu der Zeit bereits tot gewesen sein, hätte Andreas T. ihn eigentlich hinter dem Tisch liegen sehen müssen. Auch die anderen Kunden, die zu der Zeit in dem Laden waren, wollen den Mord nicht gesehen haben. Einige befanden sich im hinteren Teil des Geschäfts, und ein Mann stand zwar vorne, aber in einer abgedeckten Telefonkabine.
Die Nebenkläger verweisen darauf, dass eine Mitarbeiterin des Landesamts für Verfassungsschutz etwa zwei Wochen vor dem Mord einen Rundbrief geschrieben hatte, in dem sie auf die bundesweite, ungeklärte Mordserie hinwies. Ob jemand etwas darüber wisse? Unklar ist, ob Andreas T. das gelesen und sich damit beschäftigt hat. Vor Gericht sagte er, dienstlich sei die Mordserie kein Thema gewesen.
Der Beamte hatte Kontakt zun einem Informanten aus der rechten Szene
Der Beamte, der mittlerweile für eine andere Behörde arbeitet, führte damals mehrere V-Männer, darunter einen Informanten aus der rechten Szene in Kassel. Auch er hat bereits im Gericht ausgesagt; Anhaltspunkte dafür, dass er dem Amt Hinweise zum NSU oder zur Mordserie geliefert hätte, gab es dabei nicht.
Am Tag des Mordes in Kassel hat Andreas T. recht lange mit seinem Informanten telefoniert. Beide sagten als Zeugen vor Gericht, dass sie sich an den genauen Inhalt nach all den Jahren nicht mehr erinnern könnten. In der Welt am Sonntag war zu lesen, der V-Mann habe sich bei zwei weiteren NSU-Morden in Nürnberg und München jeweils in diesen Städten aufgehalten. Das wäre interessant - wenn es denn stimmen würde.
Es wäre nicht das erste Mal, dass in diesem Fall etwas Falsches behauptet worden ist. Ein anderes Blatt hatte einmal unterstellt, Andreas T. selbst sei auch an anderen Tatorten gewesen. Die Ermittlungen zeigten allerdings etwas anderes.