Süddeutsche Zeitung

NS-Prozess:Lange her und doch so nah

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Von Ralf Wiegand, Hamburg

Judy Meisel war ein Mädchen von 13, vielleicht 14 Jahren, als sie ihre Mutter zum letzten Mal sah. Sie standen mit den anderen Frauen, die im Konzentrationslager Stutthof eingesperrt waren, bereits entkleidet vor der Gaskammer. Judy schaffte es, zur Baracke zurückzulaufen. Ihrer Mutter gelang das nicht. "Stutthof war der organisierte Massenmord der SS, ermöglicht durch Wachmänner. Sie sorgten dafür, dass keiner aus dieser Hölle entkommen konnte."

Die Worte von Judy Meisel, die heute 94 Jahre alt ist und in den USA lebt, trägt ihr Anwalt in einem Hamburger Gerichtssaal vor. Meisel ist nicht mehr in der Lage, persönlich dem Prozess in Deutschland zu folgen, der seit diesem Donnerstag dem Hamburger Rentner Bruno D. gemacht wird. Sie, die Überlebende, gehört zu den Nebenklägerinnen. D., heute 93 Jahre alt, war Wachmann im Lager Stutthof. Er war 17 Jahre alt, als er zur Wehrmacht eingezogen, für kriegsuntauglich befunden und ins KZ in der Nähe von Danzig abkommandiert wurde, er stammt aus der Gegend.

Wie viel persönliche Schuld trägt er am Tod von mindestens 5230 Menschen, die in der Zeit seines Dienstes vom 9. August 1944 bis zum 26. April 1945 in dem Vernichtungslager zu Tode kamen?

Große Schuld, glaubt die Staatsanwaltschaft. Sie wirft Bruno D. Beihilfe zum Mord in eben diesen 5230 Fällen vor. Sein Anwalt Stefan Waterkamp glaubt, mit dem späten Prozess solle "das Versagen bei der Aufarbeitung dieser Verbrechen" wieder gut gemacht werden - das Versagen der alten Bundesrepublik, in der die ehemaligen Nazis auch in der Justiz gesessen hätten. Zu jener Zeit seien nur die Organisatoren und jene, die direkt am Töten beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen worden. Wäre es anders gewesen, sagt der Anwalt, "die Juristen hätten sich selbst auf die Anklagebank setzen müssen". Jahrzehntelang habe sich niemand für Wachleute und andere Bedienstete interessiert, auch wenn die Justiz wusste, wo sie eingesetzt worden waren. Diese Nicht-Aufarbeitung sei skandalös gewesen, aber sein Mandant Bruno D. habe annehmen dürfen, unschuldig zu sein am Massenmord. Schon 1975 hätten Vorermittlungen gegen ihn stattgefunden, ohne Anklage, und 1985 habe D. als Zeuge in einem anderen Verfahren über seine Wachmann-Vergangenheit ausgesagt. Es hatte keine Folgen. Nun sehe er "sein ganzes Leben in Frage gestellt".

Tatsächlich: Erst seit 2016, als der Bundesgerichtshof eine vierjährige Haftstrafe für den Auschwitz-Bediensteten Oskar Gröning bestätigte, reicht die "allgemeine Dienstausführung" aus, um sich möglicherweise schuldig im Sinne einer Mordanklage gemacht zu haben. Schon zuvor, im Prozess gegen den KZ-Helfer John Demjanjuk, hatte sich diese Haltung der deutschen Justiz gezeigt. Nur diese neue Rechtsprechung, sagt D.s Anwalt, sei der Grund für den Hamburger Prozess.

Hätte sich D. seiner Aufgabe entziehen können, durch Versetzung? Hätte er Menschen retten können? Hat er, noch lange nicht volljährig und nicht freiwillig an diesem Ort, geholfen, Menschen zu töten, weil er auf Wachtürmen im Schichtdienst aufpasste, dass niemand floh? Die Staatsanwaltschaft ist sicher, dass D. "bis ins Detail Kenntnis" von dem gehabt haben musste, was auf er Anlage geschah.

Es war ein Tötungslager. Mindestens 30 Menschen sind erschossen worden, als sie an der Wand in einem Zimmer standen und glaubten, ihre Körpergröße würde gemessen. Sie legten ihren Kopf an eine Messlatte an dieser Wand, hinter der ein Schusskanal in einen Nebenraum führte. Dort saß der Schütze mit einer Pistole mit Schalldämpfer und drückte ab, wenn das Genick des Todeskandidaten in der richtigen Position war. Mitgefangene mussten die Leiche ins Krematorium schaffen, andere die Blutspuren beseitigen, dann wurde der nächste hereingeführt zu den Männern in weißen Kitteln. Sie gaben vor, ihre Arbeitsfähigkeit zu untersuchen.

200 Menschen starben nach der Überzeugung der Staatsanwaltschaft in der Gaskammer, ihnen wurden Hygienemaßnahmen vorgegaukelt. In den Raum neben dem Krematorium ließen die Mörder Zyklon B ein, Blausäure wurde freigesetzt, die Menschen erstickten - umso langsamer und qualvoller, je weiter sie von der tödlichen Quelle entfernt standen. Sie umarmten sich, sie rissen sich die Haare aus, sie rüttelten an den Türen, sie schrien. All das, sagt der Staatsanwalt, konnte man draußen hören. Die entstellten Leichen wurden von Mitgefangenen verbrannt. Als niemand mehr glaubte, dass er in der Kammer beim Krematorium wirklich gewaschen würde, bauten die Mörder einen Waggon der Schmalspurbahn zur Tötungskammer um.

Und mindestens 5000 Menschen starben, weil in dem KZ "lebensfeindliche Bedingungen herbeigeführt und aufrechterhalten wurden", wie der Staatsanwalt verliest. Direkte Tötungsaktionen seien nicht mehr effizient gewesen, als immer mehr Gefangene nach Stutthof gebracht wurden, mehrfach überfüllt sei das Lager gewesen. Die Menschen wurden sich selbst überlassen, ausgezehrt von Zwangsarbeit, ohne Nahrung, ohne Hygiene, ohne jegliche medizinische Hilfe. Sie starben in den Todesbaracken, die meisten wurden auf Scheiterhaufen verbrannt, weil das Krematorium zu klein war.

Bruno D. ist ein alter Mann im Rollstuhl. Der Rechtsstaat, der heute seine Rolle in einem Unrechtsstaat aufklären soll, schützt den alten Mann so gut es geht. Kein Verhandlungstag dauert länger als zwei Stunden, D. bekommt Pausen, sobald er sie braucht. Drei Ärzte sind im Saal, seine Familie wird vor Filmaufnahmen geschützt. Er wird nach allen Prozessbeteiligten als Letzter in den Saal geschoben und als Erster hinaus, damit er unbehelligt bleibt. Gegen ihn wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor einer Jugendstrafkammer des Landgerichts verhandelt, weil er zum Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Taten noch ein Teenager war. Vor 75 Jahren.

Der Prozess nach diesen Regeln des Rechtsstaats, sagt einer der Nebenkläger-Anwälte, sei "das beste Heilmittel gegen rechtsradikale Botschaften und den Hass". Gerade nach dem Anschlag von Halle und dem Mord an Walter Lübcke sei dieses Verfahren "dringend notwendig". Auch die Vorsitzende Richterin begründete die Zulassung von Medien, von Historikern, von vielen Angehörigen der in Stutthof ermordeten Menschen mit der "gerade in Zeiten zunehmender rechtsradikaler Gewalt" großen Bedeutung des Verfahrens. In der kommenden Woche will sich der Angeklagte Bruno D., der im Prozess zunächst geschwiegen hat, selbst äußern.

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