Süddeutsche Zeitung

München:Streit verhindert Kräftemessen der Gutachter im NSU-Prozess

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Aus dem Gericht von Wiebke Ramm

Möglicherweise ist es bloß Unbedachtheit gewesen, keine Absicht. Im Saal A101 des Oberlandesgerichts München sind vier Plätze für Sachverständige vorgesehen. Gerichtspsychiater Henning Saß nimmt sie an diesem Morgen gleich allesamt in Beschlag. Auf den ersten Stuhl legt er Mantel und Schirm, auf den Tisch vor dem zweiten sein Laptop, auf den beiden verbliebenen Plätzen breitet er seine Unterlagen aus. Dann verlässt er den Saal. Professor Pedro Faustmann kommt herein und bleibt ratlos vor den belegten Plätzen stehen. Für Faustmann ist hier kein Platz - Saß hätte es kaum deutlicher machen können.

Faustmann sollte an diesem Tag im NSU-Prozess vortragen, warum das Gutachten von Saß über die Hauptangeklagte Beate Zschäpe seiner Ansicht nach nicht wissenschaftlichen Standards entspricht. Das war der Plan von Zschäpes Verteidigern, Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl. Sie haben Faustmann mit einem sogenannten methodenkritischen Gegengutachten beauftragt und selbst als Sachverständigen geladen. Den notwendigen Beweisantrag hatte Sturm am Vortag vorgelesen. Doch Faustmann wird an diesem 359. Verhandlungstag nicht zu Wort kommen. Unklar ist, ob er überhaupt gehört wird. Die Vertreter der Bundesanwaltschaft sehen dafür jedenfalls keine Notwendigkeit.

Saß schenkt Zschäpe wenig Glauben

Der vom Gericht beauftragte Psychiater Saß hatte in seinem Gutachten deutlich gemacht, dass er den Angaben der mutmaßlichen NSU-Terroristin wenig Glauben schenkt, dass sie "entsetzt" gewesen sei, als sie angeblich immer erst hinterher von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt von den Morden und Anschlägen erfahren habe. Sollte das Gericht Zschäpe als Mittäterin an sämtlichen überwiegend rassistisch motivierten Verbrechen des NSU verurteilen, lägen nach seiner Einschätzung auch die Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung vor.

Faustmann kritisiert das methodische Vorgehen von Saß unter anderem als suggestiv, widersprüchlich und nicht nachprüfbar. Das geht aus dem Beweisantrag der Verteidiger hervor, den Oberstaatsanwältin Anette Greger zu Beginn dieses Verhandlungstages Seite um Seite zerlegt. Dem Antrag fehlten Tatsachen, die für die Schuld- und Rechtsfolgenfrage relevant sind und durch Faustmann bewiesen werden sollen, sagt sie. Es handele sich deswegen gar nicht um einen Beweisantrag. Zudem habe Saß vor Gericht sein wissenschaftliches Vorgehen bereits ausführlich dargelegt. "Der Senat ist bereits jetzt in der Lage, sich ein Bild über die Sachkunde von Professor Saß zu machen", sagt Greger. Faustmann bräuchte er dafür nicht. Es folgt ein hitziges Wortgefecht.

Bundesanwalt Diemer fährt Verteidigerin Sturm scharf an

Verteidigerin Sturm hatte Greger unterbrochen, um zu erfragen, ob sie ihre Stellungnahme schriftlich bekommen. Greger ist unwillig. Verteidiger Heer reagiert ungehalten: "Ich verstehe einfach nicht, warum Sie es verweigern. Ich halte Ihr Verhalten für grob unfair." Bundesanwalt Herbert Diemer signalisiert der Verteidigung Entgegenkommen, fährt Verteidigerin Sturm dennoch scharf an: "Dieses Theater! Das ist unerträglich. Es geht nicht an, dass Sie die Kollegin Greger unterbrechen, Frau Rechtsanwältin Sturm. Sie haben still zu schweigen und zu warten, bis sie fertig ist." Ein Wort gibt das nächste. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl unterbricht die Hauptverhandlung für mehrere Stunden. Die Verteidigung bekommt Gregers Stellungnahme.

Am Nachmittag folgt Heers Erwiderung. Statt Faustmann einfach anzuhören, um die angeblichen Mängel des Saß-Gutachtens zu erkennen, setze sich das Gericht "ohne Not dem Risiko der Aufhebung seines Urteils und dem Erfordernis der Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung aus", so Heer. Richter Götzl beendet den Verhandlungstag. Am Donnerstag geht es weiter. Ob Faustmann im NSU-Prozess noch zu Wort kommen wird, ist vollkommen offen.

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