Süddeutsche Zeitung

Malaysia:Frei, aber gebunden

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Der begnadigte Oppositionsführer Anwar ist aus dem Gefängnis entlassen worden und soll das Amt des Regierungschefs übernehmen. Aber wann? In dem südostasiatischen Staat hängt seine Zukunft jetzt vom Premier ab.

Von Arne Perras, Singapur

Irgendwann hielt Anwar Ibrahim das Kreischen der Menge nicht mehr aus, der 70-Jährige legte den Zeigefinger vor die Lippen, um seine Anhänger zu beruhigen. Er ist den Lärm nicht mehr gewöhnt, nach Jahren der politischen Gefangenschaft. "Das ist unser Mandela-Moment", jubelte eine Anhängerin in Kuala Lumpur. Anwar Ibrahim, die Ikone der malaysischen Opposition, ist wieder frei.

Die Kameraleute hatten einige Mühe, das Gesicht Anwars im Getümmel einzufangen; er wirkte so, als könne er es selbst nicht ganz fassen. Gerade noch eingesperrt, dann plötzlich umringt von einer Menge von Menschen, die so viel so schnell von ihm erwarten. Seine Anhänger feiern ihn als Heilsbringer. Anwar soll eine neue Ära begründen, er soll Malaysia aus dem Morast ziehen. Die Wähler haben die korrupte Partei Umno bestraft, gesiegt hat die Opposition, und deshalb kam Anwar nun auch so schnell frei. Zuletzt war er in einer Klinik untergebracht, er musste an der Schulter operiert werden. Doch das war erst einmal vergessen, als er am Mittwoch als freier Mann hinaustrat und lächelnd den Daumen nach oben hielt.

Viele Hoffnungen ruhen jetzt auf Anwar, doch wann er das Amt des Regierungschefs übernehmen wird, ist unklar. Zwar hat ihn der König begnadigt, doch ohne Parlamentssitz kann er nicht Premier werden. Das Mandat muss er sich erst in einer Nachwahl erobern. Außerdem regiert nun erst einmal ein anderer: Premier Mahathir Mohamad. Und den kennt Anwar Ibrahim bestens. Angeblich war abgesprochen, dass der alte Mahathir den Stab zügig an Anwar übergeben wird, doch nun sieht es so aus, dass das noch dauert.

Manche Malaysier befürchten, dass die Absprachen nicht halten. Denn sie wissen ja um die abenteuerliche Geschichte dieser beiden Männer, die einst Freunde waren und dann erbitterte Feinde. Und gerade sie wollen sich wieder versöhnt haben?

Premier Mahathir nutzte die Sodomie-Vorwürfe gegen seinen Rivalen gnadenlos aus

Angefangen hatte alles in den Achtzigerjahren, Mahathir regierte als Premier und organisierte den Aufschwung. Und er förderte einen begabten Mann namens Anwar, den er zu seinem Vize machte. Ein dynamisches Gespann war das, aber dann zerbrach es im Streit - mit verheerenden Folgen für Anwar. Weshalb sich manche nun doch fragen, was er fühlt, wenn er Mahathir die Hand schüttelt. Schließlich war es sein früherer Mentor, der ihn verfolgen ließ, nachdem die Allianz zerbrochen war.

Dem Aufsteiger Anwar wurden Sodomie-Vorwürfe zum Verhängnis, homosexuelle Handlungen sind in Malaysia strafbar, ein Relikt des britischen Kolonialrechts. Nur selten wird es angewendet, doch Mahathir sah in dem Paragrafen einen nützlichen Hebel und in der gefügigen Justiz einen Komplizen, um Anwar auszuschalten. Er war dem Premier zu ehrgeizig geworden. So begann 1998 Anwars Justiz-Martyrium. Er verbrachte mehr als elf Jahre hinter Gittern, die ersten sechs in Isolationshaft. Anwar erinnert sich, wie er in der Zelle Popsongs aus den Sechzigern vor sich hin sang, um nicht verrückt zu werden. Und er las, was er in die Finger bekam: den Koran, die Bibel, Shakespeare.

Am Mittwoch nun traf der freigekommene Anwar auf seinen früheren Peiniger Mahathir. Wenn ihn das aufwühlte, sah man es ihm nicht an. Die staatliche Agentur Bernama brachte ein Foto von der Begegnung am Palast in Umlauf. Anwar lächelt darauf mehr als Mahathir, er schüttelt die Hand des 92-Jährigen und legt ihm die Linke obendrauf, als gelte es den neuen Pakt noch mal extra zu besiegeln. Mahathir hatte den Gefangenen Anwar erstmals 2016 wiedergesehen, damals näherten sie sich wieder an. "Wir sind übereingekommen, dass wir alte Streitigkeiten hinter uns lassen", erklärte der Ex-Premier später im Wahlkampf die ungeheuerliche Wende.

Die Aussicht auf die Macht reichte offenbar aus, um Anwars Wunden zuzupflastern. Ob sie auch heilen, wird man sehen. Anwar und seine Familie haben sehr gelitten, der Vater hat seine Kinder kaum aufwachsen sehen. Als er in Haft kam, rückte seine Frau Wan Azizah stärker in die Politik, nun steht die Ärztin dem Premier Mahathir als Vize zur Seite.

Über den Posten seiner Frau sichert sich Anwar Einfluss. Wann er selbst wieder an-packen will, ließ er offen. Zuerst wolle er Vorträge in den USA und einigen muslimischen Ländern halten. Auch Mahathir scheint nicht in Eile zu sein, den Stab zu übergeben. Er könne noch ein, zwei Jahre Premier bleiben, sagte er. 95 hält er für ein gutes Alter, um abzudanken. Unterdessen hat er schon losgelegt, um ein Wahlversprechen einzulösen. Untersuchungen sollen klären, was mit 4,5 Milliarden Dollar geschehen ist, die unter Premier Razak aus dem Staatsfonds verschwanden. Wahlverlierer Najib darf das Land nicht verlassen. Die Jagd nach den verlorenen Milliarden hat begonnen.

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Quelle:
SZ vom 17.05.2018
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