Süddeutsche Zeitung

Libyen:Keiner will regieren

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Der Rücktritt des Premiers der international anerkannten Regierung trifft das gespaltene Bürgerkriegsland in einer besonders heiklen Phase.

Von Moritz Baumstieger, München

Um an seiner vielleicht letzten größeren Ansprache zu arbeiten, hatte Fayez al-Serraj viel Zeit. Am Mittwochnachmittag überquerte der Premierminister der international anerkannten Regierung Libyens in einem Privatjet von Bahrain kommend das gesamte östliche Mittelmeer. In Tripolis gelandet machte Serraj sich frisch und setzte sich zur Aufzeichnung seiner Rede vor die Kameras: "Ich wünsche ihnen Glück", sagte er in Richtung der Verhandlungsteams, die seit einigen Wochen versuchen, die politische Spaltung des Landes zu überwinden. Dann fuhr er fort: "Bei dieser Gelegenheit erkläre ich den aufrichtigen Wunsch, meine Aufgaben bis spätestens Oktober an eine neue Exekutive zu übergeben."

In einer selbst für libysche Verhältnisse äußerst heiklen politischen Phase hat das gespaltene Bürgerkriegsland somit die zweite Rücktrittsankündigung eines Premiers binnen weniger Tage erlebt: Bereits am Sonntag hatte Abdullah al-Thenni seinen Rückzug erklärt, der die Gegenregierung im Osten des Landes leitete. Seit der ehemalige Architekt Serraj 2015 in einem von den Vereinten Nationen angestoßenen Prozess als Chef einer Übergangsregierung installiert wurde, war es ihm nie gelungen, seine Autorität über das gesamte Land auszudehnen. Das in der Stadt Tobruk residierende Parlament erkannte seine Autorität nicht an und stellte ein eigenes Kabinett auf, das al-Thenni leitete - beschützt von der "Libyschen Nationalarmee", wie der abtrünnige Warlord und selbsternannte Generalfeldmarschall Khalifa Haftar seinen Verband aus Armeeinheiten und Milizen nannte.

Geldprobleme, Proteste, interne Machtkämpfe: Die Entscheider stehen vor vielen Problemen

Zum Rückzug der beiden konkurrierenden Regierungschefs haben ähnliche Dynamiken beigetragen: Sowohl im Einflussbereich von Serraj als auch in dem von al-Thenni kam es in den vergangenen Wochen immer wieder zu wütenden Protesten, vor allem junge Bürger wollten sich nicht länger abfinden mit den ständig steigenden Lebenshaltungskosten, den häufigen Unterbrechungen der Stromversorgung und der Treibstoffknappheit in dem doch eigentlich ölreichen Land. Al-Thenni nannte in einem Gespräch mit Stammesältesten dezidiert die Geldknappheit seiner Regierung als Rücktrittsgrund. Serraj wurde infolge der Proteste in Tripolis, die ihm nahestehende Milizen gewaltsam niederschlugen, in einen internen Machtkampf mit seinem Innenminister Fathi Baschagah gezwungen, den er Ende August binnen weniger Tage erst entließ und dann auf Druck von mächtigen Milizen wieder einsetzen musste.

Wohl um die Regierung in Tripolis auszuhungern, lässt Haftar seit Januar die Ölterminals an der Mittelmeerküste blockieren. Seine Hoffnung, so die Gegenwehr bei seiner Offensive auf die Hauptstadt zu minimieren, musste der 76-Jährige aber begraben: Nachdem Serraj im Frühjahr ein Abkommen mit der Türkei geschlossen hatte, das Ankaras Ansprüche im rohstoffreichen östlichen Mittelmeer anerkannte, schickte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan moderne Kampfdrohnen und syrische Söldner, die dem von Russland, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützten Haftar empfindliche Niederlagen beibrachten und ihn weit in die Landesmitte zurückdrängten.

Russland und die Türkei, die wie im syrischen Bürgerkrieg auch in Libyen jeweils Schutzmacht der rivalisierenden Kräfte sind, seien ihrerseits auf einem guten Weg zu einem Übereinkommen, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Mittwoch. Bereits im August hatten sowohl Serraj in Tripolis als auch der Sprecher des Parlaments im Osten des Landes einen Waffenstillstand ausgehandelt und zu Verhandlungen aufgerufen, daraufhin tagten Verhandlungsteams in Bouznika (Marokko) und bei einem von Deutschland mitfinanzierten Format in Montreux (Schweiz). Sie einigten sich darauf, einen neuen Präsidialrat zu schaffen, der die Regierung über das gesamte Land übernehmen soll, und binnen 18 Monaten Neuwahlen abzuhalten. Gelingt es, bei weiteren Verhandlungen im Oktober die komplizierten Details dieser Einigung auszuhandeln, will Serraj noch im selben Monat abtreten - in seiner TV-Ansprache vom Mittwoch jedenfalls rief er die Delegationen auf, ihre Verhandlungen zu beschleunigen.

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SZ vom 18.09.2020
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