Süddeutsche Zeitung

Historie des Agrarministeriums:Brot und Völkermord

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Das Bundeslandwirtschafts­ministerium hat die Geschichte seiner Vorgänger erforschen lassen. Die Beamtenschaft der Nazi-Zeit ist teils stark belastet - Spitzenpersonal mit brauner Vergangenheit gibt es bis in die Ära Kohl.

Rezension von Eckart Conze

Beginnend mit der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amts hat sich in den vergangenen Jahren ein neues zeithistorisches Forschungsfeld etabliert: die "Behördenforschung". Sie beschäftigt sich mit der Geschichte bundesdeutscher Ministerien und Behörden - zum Teil wird auch die DDR einbezogen - sowie deren Vorgängereinrichtungen im Dritten Reich und wird bestimmt durch die Frage nach nationalsozialistischer Belastung, nach personeller und politischer Kontinuität.

Die Dynamik dieser in der Regel von den Institutionen selbst finanzierten Forschung, die sich längst über die Länderebene bis in den kommunalen Bereich ausgeweitet hat, ist enorm, und zumeist gelingt es den Historikerkommissionen, aus den öffentlichen Aufträgen wissenschaftlich solide Forschungsprojekte mit substanziellen Ergebnissen zu generieren.

So groß ist die Bedeutung der Behördenforschung geworden - jüngst hat sogar das Bundespräsidialamt einen entsprechenden Auftrag vergeben -, dass sich sogar ihre anfänglich schärfsten Kritiker mittlerweile zur Beteiligung verlocken lassen. Das gilt nicht zuletzt für Horst Möller, den früheren Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte.

Der hatte in der Debatte über das Buch "Das Amt und die Vergangenheit" der AA-Historikerkommission vorgeworfen, nur Altbekanntes zu reproduzieren, und die Behördenforschung zugleich als Verschwendung öffentlicher Mittel zu skandalisieren versucht.

Zehn Jahre später publiziert nun eine Historikerkommission unter seinem Vorsitz einen voluminösen Bericht über das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger, den 2016 der damalige Minister Christian Schmidt (CSU) in Auftrag gegeben hatte.

Die Studie widmet sich nicht nur der NS-Zeit

Das über 800 Seiten starke Buch, bestehend aus Einzelbeiträgen der Kommissionsmitglieder, beschränkt sich nicht auf die Zeit des Nationalsozialismus und die ersten Nachkriegsjahrzehnte, sondern es holt weiter aus.

Es setzt ein mit der Zentralisierung der deutschen Ernährungspolitik im Ersten Weltkrieg und der Geschichte des 1919 begründeten Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Dahinter steht das Argument, die Frage nach Kontinuitäten in der Zeit nach 1945, personell und sachlich, dürfe sich nicht auf das Dritte Reich beschränken, sondern müsse die Weimarer Republik einbeziehen. Das reduziert natürlich in der Gesamtperspektive das Gewicht von NS-Zeit und NS-Belastung.

Dennoch steuert die Darstellung rasch auf den Nationalsozialismus zu. Schon seinen Aufstieg und seine frühen Wahlerfolge noch in den Jahren der Republik verdankte dieser zu einem nicht geringen Teil der geschickten Instrumentalisierung politischer Stimmungen in der ländlich-agrarischen Bevölkerung sowie einer radikalen, wenn auch von den Realitäten einer modernen Industriegesellschaft weit entfernten Bauerntumsideologie.

Trotz Reichserntedankfesten und Erbhofgesetz bestimmte bekanntlich nicht Reagrarisierung die nationalsozialistische Agenda nach 1933, sondern eine forcierte Industriepolitik, die Deutschland binnen weniger Jahre kriegsfähig machen sollte. Aus dieser Vorgabe speiste sich die Bedeutung der Agrarpolitik, die angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs vor allem Ernährungspolitik zu sein hatte.

Hinter der Parole von "Blut und Boden", die lange vor 1933 der Bauerntumsideologe Richard Walther Darré geprägt hatte, wurden freilich schon früh die Triebkräfte des rassen- und raumideologisch bestimmten Vernichtungskrieges erkennbar, der mit dem deutschen Überfall auf Polen 1939 - das Buch spricht beschönigend vom "Ausbruch" des Zweiten Weltkriegs - begann.

Die Trias von "Arbeit, Brot und Völkermord" (Adam Tooze) bestimmte die Tätigkeit des Ministeriums in den Kriegsjahren und erklärt auch seine besondere Bedeutung im nationalsozialistischen Herrschafts- und Terrorsystem. Die deutsche Siedlungspolitik im östlichen Europa war mit den nationalsozialistischen Verbrechen engstens verbunden. An ihr war das Ministerium ebenso beteiligt wie an jener Hungerstrategie, der vor allem in der Sowjetunion Millionen von Menschen zum Opfer fielen.

Das Ministerium war Teil jener "kämpfenden Verwaltung", von der Himmlers Stellvertreter Reinhard Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamts, gesprochen hat, und so verstanden sich auch seine Angehörigen. Die Grenzen zwischen der traditionellen Ministerialbürokratie und dem SS-Apparat wurden fließend.

Einen Gegensatz, wie es die Studie nahelegt, zwischen professioneller Arbeit und verbrecherischem Handeln hat es nicht gegeben. Im Gegenteil. Hoch professionell begingen die Angehörigen des Ministeriums als "Bürokratie der Vernichtung" (Raul Hilberg) schlimmste Verbrechen.

Der hohe Anteil der Parteigenossen wundert nicht

Das Buch erklärt das mit der Schwäche des traditionellen preußisch-deutschen Berufsbeamtentums; das Ethos der Beamten habe sich als nicht stark genug erwiesen. Schon die Staatsanwälte und Richter in Nürnberg, unter ihnen Robert Kempner, der die Berliner Ministerialbürokratie aus eigener Erfahrung gut kannte, haben nach 1945 eine andere Erklärung gegeben. Sie sahen gerade im spezifischen Ethos der Beamten, in ihrer Staats- und Autoritätsfixierung eine entscheidende Voraussetzung für die individuelle und institutionelle Beteiligung an einer verbrecherischen Politik.

In der makabren Konkurrenz um den höchsten Anteil an NS-Belasteten nimmt das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft den Spitzenplatz ein. Schon 1950, unmittelbar nach der Gründung des Hauses, waren 61 Prozent des leitenden Personals frühere NSDAP-Mitglieder. Ihr Anteil steigerte sich bis 1960 auf 80 Prozent (von 97 Beamten). Zu Recht wehren sich die Autoren gegen eine Gleichsetzung von Parteimitgliedschaft und NS-Belastung und unterscheiden zwischen formeller und materieller Belastung.

Dennoch sind die Zahlen aussagekräftig, zumal der Bericht dabei nicht stehen bleibt. Er präsentiert vielmehr eine ganze Reihe von Beispielen für schwer belastete höhere Beamte, die bis zu ihrer Pensionierung erstaunliche Karrieren durchliefen, die zum Teil auch ins Personalreferat führten. Da wundert der hohe Anteil von Parteigenossen dann schon weniger.

Selbst das Bundesinnenministerium, wahrlich nicht frei von NS-Belastung, missbilligte 1963 die Ernennung des ehemaligen SS-Offiziers Hermann Martinstetter zum Ministerialdirektor und Personalleiter. Schon im Dienst des Ministeriums hatte Martinstetter 1952 eine erweiterte Auflage seiner Schrift "Das Recht der Staatsgrenzen" von 1939 publiziert. Deren neue Passagen trieften vor unverblümt völkischer Lebensraumideologie nicht minder als die Erstausgabe. Das alles war - nicht nur im Ministerium selbst - bekannt. Martinstetter schadete es nicht.

Noch 1984, am Beginn der Ära Kohl, wurde mit Walther Florian ein anderer früherer SS-Angehöriger sogar zum Staatssekretär ernannt. Seine SS-Mitgliedschaft war ebenfalls kein Geheimnis, und auch die Tatsache, dass er sie in einem Personalbogen von 1952 verschwiegen hatte.

Als 1984 der Zentralrat der Juden gegen die Ernennung protestierte, reagierte das Ministerium mit der Erklärung, dass Florian trotz seiner Belastung ja auch schon zum Ministerialdirigenten und zum Ministerialdirektor ernannt worden sei. Von einer hohen und bis in die 1980er-Jahre reichenden "Belastungstoleranz" und einer Nichtthematisierung der NS-Belastung bis ins beginnende 21. Jahrhundert spricht dieser stärkste Teil der Studie.

"Problematische Einzelfälle" und Erfolgsnarrativ

Leider werden die Befunde und Bewertungen dieses Teils konterkariert durch die Schlussbemerkungen des Kommissionsvorsitzenden. Zwar ist dort von "problematischen Einzelfällen" die Rede, doch insgesamt wird die Geschichte des Bundesministeriums und seines Personals eingeschrieben in ein erfolgsgeschichtliches Narrativ. Von unpolitischen Fachexperten - ein altes Entlastungsargument - ist ebenso die Rede wie von einer "politischen Resozialisierung".

Dabei bezieht sich Horst Möller nicht zuletzt auf den Philosophen Hermann Lübbe, der schon 1983 die These aufgestellt hatte, eine "gewisse Stille" und "Diskretion" sei das "sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland" gewesen.

Am Ende des Buches heißt es dann, die Geschichte des Ministeriums müsse im Lichte der Zeit beurteilt werden, nicht nach anachronistisch drei Generationen zurückverlegten Maßstäben. Nur so kann man vermutlich zu dem Schluss gelangen, dass die Bundesrepublik eine "rigorose Variante der Auseinandersetzung mit ihrer nationalsozialistischen Vorgeschichte" betrieben habe. Die einschlägigen Kapitel des Buches selbst rechtfertigen dieses Urteil in keiner Weise.

Eckart Conze ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Marburg. Zwischen 2005 und 2010 war er Sprecher der Unabhängigen Historikerkommission des Auswärtigen Amtes.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2020
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