Süddeutsche Zeitung

Vermisste nach dem Zweiten Weltkrieg:Verloren und wiedergefunden

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70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehen beim Suchdienst des Roten Kreuzes immer noch Tausende Anfragen ein. Und noch jetzt finden sich Angehörige wieder.

Von Peter Burghardt, Hamburg

"Am Sterbebett erzähle ich dir ein Geheimnis", hatte ihm seine Mutter versprochen, aber dazu kam es nicht mehr. Beide Eltern starben, ohne ihrem Sohn zu verraten, dass es da seit den Kriegswirren noch einen zweiten Sohn gab. Erst nach einem Gespräch mit einer entfernten Cousine ahnte Ernst Ulrich Wohlfahrt 2010, dass er kein Einzelkind ist. Aber wer und wo war der andere?

Der Kieler Wohlfahrt, Jahrgang 1943, erkundigte sich beim Berliner Standesamt und erfuhr, dass seine Mutter zwei Buben geboren hatte, den ersten 1941. Dann wandte er sich an Rechercheure vom Roten Kreuz. Die entdeckten den Verschwundenen, der bei Adoptiveltern aufgewachsen war und einen anderen Namen trägt. 2o11 trafen sich die Brüder - nach 68 Jahren. "Wahnsinn", sagt Ernst Ulrich Wohlfahrt, "Kriegsgeschichte."

14 Millionen Anfragen allein bis 1950

An einem Frühlingstag 2015 ist der Rentner Wohlfahrt nun ein lebendiges Erfolgsbeispiel für das Deutsche Rote Kreuz (DRK), das in Hamburg 70 Jahre Suchdienst feiert. Im Mai 1945 hatte diese gewaltige Fahndung begonnen, Deutschland lag in Trümmern. Auf Karteikarten notierten Mitarbeiter in unendlicher Arbeit die Namen von Vermissten, Gefangenen, Vertriebenen. Waren sie tot? Lebten sie? Gibt es ein Grab? Wo wurden sie zuletzt gesehen?

14 Millionen Anfragen erreichten das DRK allein bis 1950, die Ermittler gaben 8,8 Millionen klärende Antworten. Das Archiv wuchs auf heute 50 Millionen vergilbte Zettel mit 20 Millionen Schicksalen an, in Kästchen und Regalen auf einer Länge von zwölf bis 13 Kilometern. Diese weltgrößte Datenbank ihrer Art lagerte in Papierform bis zuletzt bei Münchens DRK-Suchdienst und ist inzwischen in den Keller der Kollegen nach Hamburg umgezogen. Die Münchner hatten die riesige Sammlung aber bis 2013 digitalisiert. Denn vorbei ist diese Vergangenheit nicht.

Was sind schon sieben Jahrzehnte? Weniger als ein durchschnittliches Menschenleben. Gerade steht in Lüneburg ein ehemaliger SS-Scherge wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen im Vernichtungslager Auschwitz vor Gericht, Oskar Gröning, 93 Jahre alt. Ihm gegenüber sitzen überlebende Opfer und Angehörige.

Und noch immer gelten 1,3 Millionen Deutsche seit der Tragödie von 1939 bis 1945 und ihren Folgen als verschollen. "Das ist die Bevölkerung Münchens", sagt Thomas Huber, der den DRK-Suchdienst in München leitet, "man muss sich diese Größenordnung ins Bewusstsein rufen, dann sieht man, dass sich die Arbeit noch rentiert." 2013 wurden beim DRK 15 000 Anträge auf Auskünfte zur Familienzusammenführung gestellt, 2014 waren es 14 000.

Unterdessen wird das gescannte Material am Computer gesichtet und auch im Internet geforscht. Interessenten können Formulare online einreichen. Die Technik macht die Arbeit einfacher, außerdem wurden nach dem Zerfall von Sowjetunion und DDR viele Archive geöffnet. Wobei sich herausstellte, dass die Bürokratie der UdSSR recht sorgfältig war.

Aber wie gehabt müssen sich die Fahnder oft mit alten Fotos und unklaren Schreibweisen behelfen, verfremdet durch Fremdsprachen und Dialekte. "Sie müssen sich da eine gewisse Phonetik aneignen", erläutert Kirsten Bollin vom DRK-Suchdienst Hamburg. 1,2 Millionen der 2,5 Millionen Restfälle von 1959 wurden geklärt. 300 000 Kinder und ihre Eltern fanden wieder zusammen, 5000 fehlen. Dies sei "nur eine Zwischenbilanz", sagt der frühere Bundesinnenminister und gegenwärtige Rotkreuz-Präsident Rudolf Seiters. Die Dramen gehen ja weiter.

Zum 70. Jahrestag erscheint eine syrische Familie in der DRK-Zentrale

Nach dem Mauerfall zogen 400 000 deutschstämmige Osteuropäer nach Deutschland, 2014 wurden 5649 Spätaussiedler registriert. Schon der Massenflucht im Zuge des Vietnamkrieges folgten stetig neue Konflikte. Balkan, Afghanistan, Irak, Syrien.

Die Zeiten seien nicht so, wie man sich das vorstelle, klagt mit sonorer Stimme der DRK-Botschafter Jan Hofer. "Das sieht man jeden Tag in den Nachrichten", in der Tagesschau nicht selten bei ihm. Von Menschen, die vor der Gewalt in ihrer Heimat geflohen sind, wurde der DRK-Suchdienst im vergangenen Jahr 1053-mal um Hilfe gebeten. Bilder hängen in Ausländerbehörden und Notunterkünften.

Zum 70. Jubiläum des DRK-Suchdienstes ist auch eine syrische Familie in der Hamburger Zentrale erschienen. Nabila Karmi, die in Wirklichkeit anders heißt, floh 2012 aus Damaskus in die Türkei und 2013 nach Deutschland. Ihre Eltern und ihre Schwester kamen zunächst in Libanon unter, sie verloren sich wie Millionen Landsleute aus den Augen. Im inzwischen türkischen Exil stieß ihr Vater auf einer Website des Internationalen Roten Kreuzes dann auf ihr Foto, das DRK übermittelte ihre Handynummer. Beim ersten Gespräch, berichtet Nabila Karmi, hätten sie "nur geweint, gar nicht gesprochen".

Und Ernst Ulrich Wohlfahrt kennt jetzt also seinen Bruder. Er freut sich - und sagt auch: "Es ist ganz komisch."

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Quelle:
SZ vom 05.05.2015
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