Süddeutsche Zeitung

Krieg gegen die Ukraine:Die Offensive vor der Offensive

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Mit ungewöhnlich massiven Raketenangriffen versucht Russland derzeit, möglichst viel zu zerstören auf ukrainischer Seite. Nicht zuletzt das Abwehrsystem "Patriot". Aber auch Kiew attackiert.

Von Florian Hassel, Belgrad

Mit massiven Raketenangriffen versuchen Russland und die Ukraine derzeit, vor einer ukrainischen Offensive Ziele des jeweiligen Gegners zu vernichten - Moskau will zudem das von den USA an die Ukraine gelieferte Raketenabwehrsystem Patriot zerstören. Die Ukraine setzt ihrerseits von Großbritannien gelieferte Raketen mit größerer Reichweite ein, und Kiew verhandelt zudem über F-16-Kampfflugzeuge aus US-Produktion.

In der Nacht zum Dienstag hat Russland nach Angaben des ukrainischen Oberbefehlshabers Walerij Saluschnyj die Ukraine mit 18 Marschflugkörpern und Raketen angegriffen. So hätten russische MiG-31-Jagdbomber etwa sechs mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit fliegende Kinschal-Raketen auf Kiew abgefeuert. Saluschnyj zufolge startete Russland in derselben Nacht von Kriegsschiffen der russischen Schwarzmeerflotte zudem neun Kalibr-Marschflugkörper sowie von Land drei Raketen der Typen S-400 und Iskander-M. Alle 18 Raketen und Marschflugkörper seien jedoch abgefangen worden. Die ukrainische Luftwaffe meldete zudem den Abschuss von sechs Drohnen iranischer Herstellung. Bereits am 4. Mai feuerte Russland eine Kinschal auf die ukrainische Hauptstadt ab, die Kiew und Washington zufolge ebenfalls abgefangen wurde - mithilfe des Patriot-Systems, wie das US-Verteidigungsministerium erklärte.

Moskau behauptet, man habe 9169 Panzer der Ukraine zerstört. Sie hat aber keine 1000

Moskau stellt die Ereignisse hingegen anders dar, es behauptete am Dienstag, eine seiner Kinschal-Raketen habe ein in Kiew stationiertes Patriot-Abwehrsystem beschädigt. Freilich erfindet Russland Erfolge auch schlicht: Am Montag etwa behauptete Armeesprecher Igor Konaschenkow, Russland habe bisher 9169 ukrainische Panzer zerstört. Tatsächlich verfügte Kiew zu Beginn des russischen Überfalls Ende Februar 2022 aber nur über 858 Panzer, es glich seitdem eigene Verluste durch die Eroberung ausgefallener russischer Panzer mehr als aus, ein Jahr nach Kriegsbeginn hatte es 953 Panzer zur Verfügung, so hat es das Londoner Institut für strategische Studien ermittelt.

Nach Angaben der Ukraine und des US-Verteidigungsministeriums nutzt Kiew eben die Patriot-Systeme - von denen eines nahe Kiew steht und ein anderes offenbar bei Dnipro - zum Abschuss der von Russlands Präsident Wladimir Putin als unbesiegbar ausgegebenen Kinschal -Raketen. US-Offizielle sagten dem Fernsehsender CNN indes auch, die russische Seite könne den Standort eines Patriot-Systems anhand der Strahlen seines leistungsfähigen Radars wohl orten. Zudem hat Russland jüngst ukrainische Ziele etwa im ostukrainischen Charkiw oder in Ternopil im Westen der Ukraine getroffen: Dort deutete eine gewaltige Explosion darauf hin, dass ein Munitionslager getroffen worden sein könnte.

Kiew feuert "Storm Shadows" auf die besetzten Regionen im Osten

Gleichzeitig greift auch die Ukraine verstärkt russische Ziele an - etwa mit von London gelieferten Storm-Shadow-Marschflugkörpern, die eine Reichweite von mindestens 250 Kilometern haben. Zuvor konnte die Ukraine die Russen nur mit dem US-Raketenwerfersystem Himars angreifen, der mit der aktuellen Bewaffnung 80 Kilometer weit reicht. Dabei sind ein Ziel der Ukrainer russische Objekte im von Russland besetzten Luhansk, knapp 100 Kilometer von der Front entfernt. Seit dem 12. Mai hat die Ukraine Ziele in Luhansk fast täglich mit Cruise-Missiles vom Typ Storm Shadow angegriffen, jede von ihnen trägt einen 450-Kilogramm-Gefechtskopf. Britische Offizielle bestätigten die Lieferung dieser Waffen der Washington Post.

Russland behauptet, es habe bis Dienstag acht solcher Storm-Shadow-Marschflugkörper abgefangen, doch wieder ist Skepsis angebracht. Ein russischer Militärblogger bestätigte am Montag, die Ukraine habe mit Storm Shadows ein Quartier russischer Soldaten zerstört. Russlands Militär könne die britischen Flugkörper, die von MiG-29- oder Su-27-Jagdflugzeugen der ukrainischen Luftwaffe abgefeuert werden, nur abfangen, wenn es die Flugzeuge selbst abschieße.

Auch innerhalb Russlands gehen seit Monaten zunehmende Angriffe teils erfolgreich weiter: Am 13. Mai etwa stürzten in der grenznahen Region Brjansk zwei russische Mi-8-Militärhubschrauber und zwei Jagdflugzeuge Su-34 und Su-35 ab. Dem Moskauer Kommersant zufolge waren sie auf dem Weg, um Ziele in der Ukraine zu bombardieren, wurden aber bereits im russischen Luftraum abgeschossen. Dem Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, zufolge hat Präsident Selenskij in Europa zudem intensiv über die Lieferung moderner F-16-Kampfflugzeuge aus US-Produktion verhandelt - und auch mit Washington werde intensiv gesprochen.

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