Süddeutsche Zeitung

Kosten für Flüchtlinge:Das war's wohl mit der Schuldenbremse

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Die Aufnahme der Flüchtlinge kostet viel Geld. Die meisten EU-Staaten wirtschaften aber schon jetzt am Limit. Das wird einen Regelbruch notwendig machen.

Kommentar von Cerstin Gammelin, Berlin

Wolfgang Schäuble hat den Moment der Wahrheit bemerkenswert lange hinausgezögert. Weil Ernüchterung stets mit der Rechnung kommt, hat es der Bundesfinanzminister bis zum Flüchtlingsgipfel vermieden, die mitunter euphorische Willkommenskultur in Deutschland mit der Nennung einer nüchternen Milliardensumme zu beenden.

Das schlichte Beziffern der Kosten, welche die Betreuung der Asylsuchenden dauerhaft mit sich bringt, birgt monetäre wie mentale Sprengkraft zugleich. Und zwar genug, um die ohnehin fragile Lage außer Kontrolle geraten zu lassen. Denn der Moment, in dem die Kosten klar sind, löst gewissermaßen eine Kaskade von Reaktionen bei den nationalen Haushaltspolitikern aus. Die mühevoll sanierten Kassen der Kommunen sind plötzlich wieder leer. Die schwarze Null im Bundesetat ist auf einmal wieder ungewiss. Schuldenbremsen und europäische Defizitregeln laufen Gefahr, endgültig Makulatur zu werden.

Zugleich kann die Stimmung leicht kippen. Bürger, die bisher mitgeholfen haben, werden ins Grübeln geraten, wenn dauerhaft bei Turnhallen und Kindergärten gespart wird, um Asylbewerber zu beherbergen. Andere Bürger, die schon immer dagegen waren, so viele Flüchtlinge aufzunehmen, werden sich bestätigt fühlen.

Die meisten Nachbarländer wirtschaften schon jetzt am Limit

Wie sensibel der Streit ums Geld ist, zeigt sich auch darin, dass unterschiedliche Verwaltungen die Kosten für die Versorgung der Flüchtlinge bemerkenswert unterschiedlich kalkulieren. Die Europäische Kommission setzt für jeden Flüchtling, der über die am Dienstag beschlossene Quote innerhalb der Europäischen Union umziehen muss, 6000 Euro an. Das Geld soll aus dem EU-Haushalt kommen (der allerdings aus den nationalen Budgets gefüllt wird).

Verglichen mit den deutschen Kalkulationen scheint die Summe ohnehin nicht kostendeckend zu sein. Der Deutsche Städtetag veranschlagt beinahe das Doppelte, nämlich 10 000 Euro pro Flüchtling. Einige Ministerpräsidenten fordern noch mal bis zu 5000 Euro zusätzlich pro Kopf.

Multipliziert mit der Zahl der erwarteten Flüchtlinge ergeben sich stattliche Summen. Allein die beschlossene Verteilung von 120 000 Flüchtlingen in den nächsten Wochen kostet den EU-Haushalt 780 Millionen Euro. Im November, wenn die zentralen Aufnahmelager an den Außengrenzen errichtet sein sollen, rechnet die EU mit weiteren 800 000 Bewerbern. Angesichts des beschränkten EU-Haushaltes werden da selbst 6000 Euro pro Kopf unbezahlbar sein.

Diejenigen der 28 Mitgliedsstaaten, die Flüchtlinge aufnehmen, werden also die Kosten dafür aus ihren nationalen Budgets bestreiten müssen. Der deutsche Finanzminister ist in der komfortablen Lage, die hierzulande erwarteten eine Million Flüchtlinge aus einer gefüllten Haushaltskasse bezahlen zu können. Neun Milliarden Euro Zusatzkosten sind derzeit kein Problem, dafür muss Schäuble weder neue Schulden machen noch Steuern erhöhen.

Aber: Sollen die europäischen Nachbarn ebenfalls in größerer Zahl Flüchtlinge aufnehmen, müssen vereinbarte Schuldenbremsen ausgesetzt und europäische Defizitregeln erneut gelockert werden. Die meisten Nachbarn wirtschaften angesichts schwacher Konjunktur und hoher Arbeitslosigkeit am Limit. Italien hangelt sich dicht an der erlaubten Neuverschuldung entlang, Frankreich macht permanent zu viele neue Schulden. Die Milliarden, die diese Länder zusätzlich für Flüchtlinge einplanen sollen, werden den engen Haushaltsrahmen sprengen.

Berlin wird sich kaum widersetzen, die Defizitregeln auszusetzen. Es wäre nicht der erste Regelbruch in der Flüchtlingskrise.

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SZ vom 25.09.2015
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