Süddeutsche Zeitung

Kompromiss von Brüssel:Kürzen für Fortgeschrittene

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In der langen Gipfelnacht wurden nicht nur die Corona-Hilfen neu justiert, sondern auch so manches Zukunftsprogramm gestutzt.

Von Björn Finke und Matthias Kolb

Es war ein Marathongipfel, aber es ging ja auch um sehr viel Geld. Die 27 Staats- und Regierungschefs der EU verhandelten 91,5 Stunden lang, bis sie sich am Dienstagmorgen auf den Corona-Hilfstopf und den neuen Sieben-Jahres-Haushalt der Union einigten. Die Ergebnisse sind in einem 68-seitigen Dokument zusammengefasst, voller Zahlen, Tabellen und juristischer Klauseln. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach erfreut von einem "historischen Tag", doch es regt sich auch viel Kritik. So sind zahlreiche Europaabgeordnete enttäuscht, dass kein wirksamer Hebel eingeführt wurde, um Auszahlungen vom Funktionieren des Rechtsstaats in den Empfängerländern abhängig zu machen . Ein Überblick über die Resultate:

Größe des Corona-Topfs

Der Hilfsfonds soll wie von der EU-Kommission vorgeschlagen 750 Milliarden Euro umfassen - aber die Zusammensetzung hat sich geändert. Statt 500 Milliarden Euro nicht rückzahlbare Zuschüsse an Mitgliedstaaten auszuschütten und 250 Milliarden Euro Darlehen, sind es nun lediglich 390 Milliarden Euro Zuschüsse. Dies lag am Widerstand der Regierungen der Niederlande, Österreichs, Schwedens, Dänemarks und Finnlands. Das wichtigste Zuschussprogramm im Topf wurde allerdings nicht gekappt; es umfasst 313 Milliarden Euro. Damit sollen Reformen und staatliche Investitionen in EU-Ländern unterstützt werden, vor allem in jenen, die stark unter der Pandemie leiden oder deren Wirtschaft ohnehin Probleme hat. Zu den Hauptprofiteuren gehören Italien, Spanien, Bulgarien und Kroatien.

Gespart wurde stattdessen woanders. So fiel eine neue Initiative komplett weg, die es coronageschädigten Firmen hätte erleichtern sollen, Investoren für Kapitalspritzen zu finden. Außerdem wollte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Mittel aus dem Topf nutzen, um bestehende EU-Programme aufzustocken - und zwar jene, die als besonders wichtig für die Stärkung der Union gelten. Trotzdem wurde hier massiv gekürzt. So soll der "Fonds für einen gerechten Übergang" nur zehn statt dreißig Milliarden Euro aus dem Corona-Topf erhalten. Der Fonds hilft Regionen, deren Wirtschaft sehr unter den ehrgeizigen Klimaschutzzielen der EU leiden wird. Und das Forschungsförderprogramm "Horizon Europe" bekommt lediglich fünf statt 13,5 Milliarden Euro. Noch härter trifft es das neue Gesundheitsschutzprogramm, das von der Leyen als Lehre aus der Pandemie aufgelegt hat. Statt 7,7 Milliarden Euro gibt es nun gar nichts; es muss sich also allein mit den knappen Mitteln aus dem regulären EU-Haushalt bescheiden.

Kontrolle der Hilfszahlungen

Die Auszahlung der 313 Milliarden Euro, mit denen der Corona-Topf Reformen und Investitionen unterstützen soll, unterliegt Bedingungen. Zunächst müssen Regierungen Pläne mit förderwürdigen Projekten für die Jahre 2021 bis 2023 aufstellen, die Kommission wird prüfen, ob diese das Land und die EU voranbringen. Zudem sollen Auszahlungen daran gekoppelt sein, dass die Regierungen bei ihren Vorhaben Zwischenziele erreichen. So weit, so unstrittig. Auf dem Gipfel wurde jedoch heftig diskutiert über die Frage, wie kontrolliert und entschieden wird. So forderte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, dass die 27 Mitgliedstaaten jede Auszahlung einstimmig billigen müssten. Dann könnte der Niederländer ein Veto gegen eine Überweisung einlegen, wenn seiner Meinung nach zum Beispiel Italien Reformversprechen nicht eingehalten und damit ein Zwischenziel verfehlt hat.

Die anderen Regierungen lehnten den Vorstoß ab. Nun ist vorgesehen, dass ein Land bei Bedenken den Aufschub einer Auszahlung erzwingen kann, bis die 27 Staats- und Regierungschefs den Streit bei einem ihrer regelmäßigen Treffen zum Thema gemacht haben. Das ist aber kein Veto; nach spätestens drei Monaten Wartezeit kann die Kommission das Geld trotzdem freigeben. Rutte wird jedoch versuchen, dieses Zugeständnis als Veto darzustellen.

Begleichung der Schulden

Die Kommission nimmt für den Corona-Topf erstmals im großen Stil Schulden auf und soll diese bis 2058 begleichen. Der Bundesregierung wäre ein schnelleres Abstottern lieber gewesen, sie konnte sich aber nicht durchsetzen. Es geht hierbei nur um die 390 Milliarden Euro, die für Zuschüsse verwendet werden. Denn die übrigen Mittel aus dem Fonds vergibt die Behörde ja als Darlehen an Staaten, erhält sie also zurück. Die Kommission schlug vor, mit dem Begleichen der Schulden erst 2028 zu beginnen. Doch die Einigung sieht jetzt vor, dass der Schuldendienst schon früher anfangen kann, falls es gelingt, der Kommission neue Einnahmequellen zu erschließen. So ist geplant, bereits zum Jahreswechsel eine Plastikabgabe einzuführen. EU-Regierungen sollen für jede Tonne unrecycelten Verpackungsmüll aus Kunststoff 800 Euro nach Brüssel überweisen.

Spätestens 2023 sollen eine EU-Digitalsteuer hinzukommen und eine Abgabe auf Importe von Waren, die im Herkunftsland weniger klimafreundlich als in Europa produziert werden. Die Kommission soll für die beiden Ideen bis Sommer 2021 Konzepte entwickeln. Die Behörde erhielte somit Zugriff auf eigene Steuern und Abgaben - das wäre ein bedeutender Schritt hin zu mehr europäischer Integration und ähnlich revolutionär wie die Tatsache, dass die Behörde nun Schulden machen darf.

Der Sieben-Jahres-Haushalt

Die Staats- und Regierungschefs mussten sich nicht nur auf den Corona-Topf einigen, sondern auch auf den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU. Das ist ein grober Haushaltsplan für die sieben Jahre von 2021 bis 2027. Der Corona-Fonds und das Budget sind eng verknüpft, weil die Mittel aus dem Fonds über EU-Programme abfließen und den Haushalt damit in den ersten Jahren massiv aufstocken. Der eigentliche Haushalt - ohne Corona-Zuschüsse - soll jetzt ein Volumen von 1074 Milliarden Euro haben. Die Beträge sind allerdings in Preisen von 2018 angegeben, damals präsentierte die Kommission den ersten Entwurf. Wird die Preissteigerung berücksichtigt, beträgt der Umfang 1211 Milliarden Euro.

Das Ergebnis liegt etwas unter dem Vorschlag der Kommission und deutlich unter dem des Europaparlaments. Entsprechend unzufrieden äußerten sich viele Abgeordnete . Neben dem Volumen missfallen ihnen die Prioritäten. Jeweils etwa ein Drittel der Mittel soll für Agrarsubventionen und die Förderung benachteiligter Regionen aufgewandt werden. Doch die Parlamentarier - und vor dem Gipfel auch einige Regierungen - forderten, diese traditionellen Ausgabenbereiche der EU stärker zu stutzen. Dafür sollte mehr in moderne Politikfelder investiert werden wie Klima- und Grenzschutz, Verteidigungszusammenarbeit oder Forschung. Das ist nun nicht mehr vorgesehen. Als weitere Enttäuschung kam hinzu, dass die Zuschüsse aus dem Corona-Topf für die Programme gekappt wurden.

Streit gab es beim Gipfel auch über die Rabatte auf den Beitrag in den EU-Haushalt. Davon profitieren Deutschland und vier andere Staaten. Der deutsche Nachlass bleibt weitgehend unverändert. Die Rabatte für die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark steigen sogar - dies sollte die Zustimmung des Quartetts zum Corona-Fonds erkaufen.

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Quelle:
SZ vom 22.07.2020
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