Süddeutsche Zeitung

Unruhen in Kirgisistan:Vom Häftling zum Regierungschef

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Nach der Parlamentswahl eskalieren die Proteste in dem zentralasiatischen Land. Der Präsident verhängt den Ausnahmezustand, das Votum für den neuen Premier bleibt umstritten - noch vor wenigen Tagen war Sadyr Dschaparow im Gefängnis.

Von Silke Bigalke, Moskau

Noch vor einer Woche saß Sadyr Dschaparow im Gefängnis. Jetzt ist der 51-Jährige neuer Regierungschef von Kirgisistan. Zumindest hat das Parlament ihn am Samstag zum Ministerpräsidenten gewählt. Doch auch ein Parlamentsvotum ist in Kirgisistan dieser Tage keine sichere Sache. Ob es durch den neuen Premier nun ruhiger wird in dem zentralasiatischen Land bleibt äußerst ungewiss. In Kirgisistan ist politisches Chaos ausgebrochen, nachdem das Parlament vor einer Woche neu gewählt worden war. Die Opposition klagte über Manipulation, offenbar zurecht. Regierungsgegner stürmten in der Nacht zum Dienstag Parlament und Präsidentensitz. Premierminister Kubatbek Boronow trat zurück. Präsident Sooronbai Dscheenbekow floh an einen unbekannten Ort.

Die zentrale Wahlkommission hat das Ergebnis der Parlamentswahl inzwischen für ungültig erklärt - um Spannungen zu vermeiden, hieß es. Dabei ist die Lage längst eskaliert, mehr als tausend Menschen sollen bei den Protesten verletzt worden sein, einer starb. Auf den Straßen der kirgisischen Hauptstadt Bischkek herrscht Ausnahmezustand, Präsident Sooronbai Dscheenbekow hat ihn am Freitag ausgerufen. Es wird von Plünderungen berichtet, von Straßenbanden, Bürgerwehren, Militärfahrzeugen auf den Straßen. Nachts gilt eine Ausgangssperre. Kurz bevor er derart durchgriff, hatte Präsident Dscheenbekow noch seine Bereitschaft zum Rücktritt signalisiert. Er werde aber erst gehen, wenn eine Regierung gebildet und das Land zur Gesetzmäßigkeit zurückkehre.

Sein Vorgänger, der frühere Präsident Almasbek Atambajew, hatte die Proteste am Freitag mit angeführt. Genauso wie der Oppositionelle Sadyr Dschaparow hatte er noch zu Wochenbeginn im Gefängnis gesessen. Regierungsgegner hatten beide während der Unruhen Dienstagnacht befreit. Atambajew hatte sich mit seinem Nachfolger Dscheenbekow überworfen und war dann zu elf Jahren Haft verurteilt worden, unter anderem wegen Korruption. Anders als Dschaparow wurde der Ex-Präsident Atambajew bereits am Samstag wieder festgenommen. Nun wird ihm auch die Organisation von Massenunruhen vorgeworfen.

Der neue Premier Sadyr Dschaparow war 2017 unter anderem wegen Geiselnahme zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Ein Gericht hob das Urteil vergangene Woche auf. Auch Dschaparow gehört eigentlich zu einer alten Politikerelite. Er war einst Berater eines weiteren Ex-Präsidenten, von Kurmanbek Bakijew, der seit seinem Sturz 2010 im Exil in Belarus lebt. Bakijew hatte damals versucht, die Proteste gegen ihn gewaltsam niederzuschlagen, mindestens 77 Menschen starben. Im Streit um das Premierministeramt konnte Dschaparow seine politischen Gegner nun offenbar ausmanövrieren. Er hatte sich bereits am Mittwoch zum Regierungschef erklärt. Zuvor hatte das Parlament eine chaotische Sitzung abgehalten und angeblich bereits dann für Dschaparow gestimmt. Doch das umstrittene Votum, das nun wiederholt wurde, spaltet die Opposition.

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SZ vom 12.10.2020
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