Süddeutsche Zeitung

Völkerrecht:Die Übel eines humanen Krieges

Lesezeit: 4 min

Samuel Moyns These lautet, dass sich die USA seit 9/11 in einem nicht endenden Krieg gegen den Terror befinden, gerade weil diesem Krieg mithilfe von Drohnen ein humaner Anstrich verpasst wurde. Das ist brillant erzählt - führt aber zur Hollywoodisierung des modernen Kriegsvölkerrechts.

Von Annette Weinke

Der amerikanische Historiker und Jurist Samuel Moyn gilt als eine der bekanntesten Stimmen in der Debatte um eine revisionistische Lesart der Menschenrechte. Sein neues Buch "Humane" hat laut Titel zum Inhalt, wie die USA den Frieden aufgaben und den Krieg neu erfanden ("How the United States abandoned peace and reinvented war" - bisher nur auf Englisch). Doch der in Yale lehrende Moyn legt letztlich eine Gesamtgeschichte des humanitären Völkerrechts vor, die mit den weltweiten Demonstrationen gegen den Irak-Krieg und der inneramerikanischen Kampagne gegen die Folter einsetzt, die anlässlich der Enthüllungen über das berüchtigte Abu-Ghraib-Gefängnis in Gang kam. Jene Ereignisse, so eine seiner Ausgangsthesen, seien zu Wegmarken eines tiefgreifenden historischen Wandels geworden.

Verweis auf Tolstois "Krieg und Frieden"

Außer für einen Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik seines Landes stünden sie auch für eine grundsätzliche Neuausrichtung der politischen Kultur im Hinblick auf Krieg und Frieden. In dem Maß, indem sich die Kriegsführung der Vereinigten Staaten seit 9/11 zu einer weltweiten Anti-Terror-Kampagne entwickelt habe, die vorrangig auf das "targeted killing" durch Drohnen und den Einsatz von Special Forces setze, sei der "moralische Imperativ zum Frieden", der in Teilen der amerikanischen Gesellschaft traditionellerweise stark verankert gewesen sei, bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft. Einen entscheidenden Motor für die Durchsetzung der Sichtweise, dass Kriege nicht verhindert, sondern nur "humanisiert" werden könnten, sieht der Autor im modernen Kriegsvölkerrecht.

Dessen Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert zeichnet die historische Darstellung in zwei Etappen nach. Der erste Teil des Buchs nimmt unter der Überschrift "Brutality" den Faden in überraschender Weise auf, indem statt des internationalen Rechts ein Klassiker der Weltliteratur im Mittelpunkt steht. Am Beispiel des russischen Nationaldichters Lew Tolstoi und dessen Roman "Krieg und Frieden" zeigt Moyn, wie sich bereits gleichzeitig zum damals aufkommenden liberalen Kriegsvölkerrecht ein Gegendiskurs formierte, der allerdings, so das Argument, eher randständig blieb und dementsprechend in wissenschaftlichen Zirkeln wenig Anklang fand. In Tolstois literarischen Verarbeitungen der napoleonischen Kriege und des Krim-Kriegs, in die sich eine prinzipielle Kritik am Humanitarismus, an christlicher Friedensarbeit und der Anti-Sklaverei-Bewegung mischte, brach sich ein moralischer Rigorismus Bahn, der nach Auffassung Moyns ebenso hellsichtig wie unzeitgemäß war.

Mit seinen Einwänden gegen eine rechtliche Einhegung des Kriegs stellte sich Tolstoi dem herrschenden Zeitgeist entgegen, der durch Fortschrittsoptimismus und dem Glauben an die wissenschaftliche Beherrschbarkeit menschlicher Grundprobleme bestimmt war. Verkörpert wurde diese Haltung durch Figuren wie den Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes und späteren Nobelpreisträger. Dessen Ideen zur besseren Versorgung von verwundeten Soldaten wurden zur Grundlage einer humanitären und rechtswissenschaftlichen Reformbewegung, die sich insbesondere in der Genfer und der Haager Konvention niederschlug.

Herausgefordert wurde das entstehende Kriegsvölkerrecht durch ein stetig wachsendes, transatlantisches Heer an Pazifisten, an dessen Spitze oft Frauen wie die österreichische Friedensaktivistin und Bestsellerautorin Bertha von Suttner oder die Schwedin Ellen Key standen. Suttner, die wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs starb, lebte gerade noch lang genug, um zu erkennen, welche Gefahr der Friedensbewegung durch die neuen Waffentechnologien des Luftkriegs erwuchs. Bis zum erstmaligen Angriff deutscher Zeppeline auf die englische Nordseeküste waren bis dahin nur rebellische Kolonisierte aus der Luft attackiert worden.

Den Bombenkrieg nennt der Autor "urban holocaust"

Die Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, die auch eine Reaktion auf gezielte deutsche Luftangriffe gegen Zivilisten war, charakterisiert der Autor als urban holocausts, die im Sommer 1945 geführten Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki werden als American holocaust bezeichnet. Als Experte für moderne europäische Geschichte ist Moyn selbstverständlich bewusst, dass der Begriff - ursprünglich griechisch für "Brandopfer" - schon seit mehreren Jahrzehnten als Synonym für die systematische Vernichtung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland gilt. Dass er ihn dennoch für den alliierten Luftkrieg gegen Deutsche verwendet - dies geschieht ohne weitere Erläuterungen und mit halbherzig distanzierendem kleinen h -, ist somit kein Zufall. Vielmehr soll die gewählte Terminologie seine fragwürdige, nicht näher belegte Behauptung stützen, nach der Briten und Amerikaner mit ihrer Kriegsführung des " moral bombing" mehr oder weniger bruchlos an ältere Praktiken der Aufstandsbekämpfung in den Kolonien anknüpften. Obwohl vielfach von Vernichtungsabsichten gegenüber den Zivilbevölkerungen geleitet, habe ihnen das geltende Völkerrecht dafür angeblich eine Art Carte blanche geliefert.

In ähnlicher Weise argumentiert auch der zweite Teil des Buchs, wo unter dem zynisch klingenden Stichwort "Humanity" die Kriege in Vietnam, Kambodscha und Laos in den Blick genommen werden. Mit dem viel beachteten Pamphlet "Nürnberg and Vietnam: An American Tragedy" schaltete sich 1970 auch General Telford Taylor, ehemals amerikanischer Chefankläger in den Nürnberger Prozessen, in die Debatte um die amerikanische Kriegsführung in Südostasien ein. Obwohl sich Taylor selbst dem konservativen politischen Lager zurechnete, fiel seine völkerrechtliche Analyse schonungslos aus.

So war er einer der Ersten, die den amerikanischen Militärs, an erster Stelle dem kommandierenden General William Westmoreland, vorwarfen, durch die Einrichtung von "free-fire zones" Massenverbrechen an Zivilisten ermöglicht zu haben. In einer beliebten amerikanischen Fernsehshow klagte er führende Vertreter der US-Sicherheitselite 1971 an, sich nach den Maßstäben des Tokioter Prozesses schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht zu haben. Ungeachtet dessen sieht Moyn in dem amerikanischen Spitzenjuristen einen Wegbereiter für einen linksliberalen Rechtsaktivismus, der in den 1990er- und 2000er-Jahren überaus einflussreich geworden sei. Mit seiner legalistischen Agenda einer "Humanisierung" des Kriegs habe dieser den Übergang in ein Zeitalter des zeitlich wie räumlich grenzenlosen Drohnenkriegs à la Obama ermöglicht, so Moyn.

Die "dunkle Seite" des Kriegsvölkerrechts

Wie bereits in früheren Veröffentlichungen gelingt es dem Autor auch mit diesem Buch in eindrucksvoller Weise, ein sperriges, ja sprödes Thema für ein größeres Publikum aufzubereiten. Zwar ist Moyns selbstbewusst vorgetragene Annahme, nach der das Kriegsvölkerrecht auch eine "dunkle Seite" gehabt habe, weder besonders neu noch originell. Und anders als suggeriert wird, beschäftigt die These auch nicht erst seit 9/11 Vertreter einer kritischen Rechtswissenschaft. Doch dürfte dies vorher noch kaum in ähnlich anschaulicher Form illustriert worden sein. Nimmt man "Humane" als Geschichtsschreibung ernst, was man unbedingt tun sollte, tritt jedoch in den Blick, welcher Preis für die betont pointierende Erzählweise zu entrichten ist.

Dieser liegt darin, dass das eigentliche Kriegsvölkerrecht in Moyns Ideengeschichte kaum eine Rolle spielt, sondern es letztlich nur eine Bühne für intellektuelle Kontroversen und Konzepte abgibt. Ähnlich wie in Tolstois "Krieg und Frieden" bestehen die Dramatis personae aus vielen (weißen) Männern und einigen wenigen Frauen, die Visionen haben, mit ihrem Gewissen ringen und daran oft tragisch scheitern. Man könnte somit auch von einer Hollywoodisierung des internationalen Rechts sprechen. Das ist spannend, wird aber der Komplexität des Themas nicht gerecht.

Annette Weinke lehrt und forscht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gemeinsam mit Leora Bilsky ist sie Herausgeberin des soeben erschienenen Bands "Jewish-European Émigré Lawyers. Twentieth Century International Humanitarian Law as Idea and Profession" (Wallstein).

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5527000
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.