Süddeutsche Zeitung

Ende des Kalten Krieges:Neue Zeiten, neue Zäune

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Von Peter Münch, Wien

Zwei Männer in Anzug und Krawatte, ausgerüstet mit unhandlich großen Drahtscheren, die kurz zuvor im Baumarkt besorgt worden waren: Diese Szenerie ist in die Geschichtsbücher eingegangen als Symbol für die Öffnung des Eisernen Vorhangs. Vor genau 30 Jahren, am 27. Juni 1989, hatten sich Ungarns Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock zwischen Sopron und Klingenbach getroffen, um jenen Stacheldraht zu durchschneiden, der ihre beiden Länder und mit ihnen die östliche und die westliche Hälfte Europas vier Jahrzehnte lang getrennt hat. Das ikonische Foto steht für eine Zeitenwende - und die will gut inszeniert sein.

Denn tatsächlich hatte der Abbau der ziemlich maroden ungarischen Grenzanlagen bereits am 2. Mai begonnen. Das allerdings war im turbulenten Wendejahr 1989 nicht allzu groß beachtet worden, weshalb sich die Außenminister Horn und Mock darauf verständigten, mit einem gemeinsamen Scherenschnitt die Aufmerksamkeit der Welt auf diesen Vorgang zu lenken. Der historische Schlüsselmoment war also vor allem ein Schauspiel für die geladenen Fotografen und Kameraleute. Die inszenierten Bilder aber entfalteten dann eine solche Kraft, dass sie fast schlagartig Fakten schufen.

Vor allem in der DDR lösten die Fotos vom Fall des Grenzzauns eine Sogwirkung aus. Viele Menschen reisten nach Ungarn in der Hoffnung auf Ausreise in den Westen. Zwar wurde die Grenze auch ohne Zaun noch weiter kontrolliert, aber am 19. August rannten Hunderte Ostdeutsche bei einem "Paneuropäischen Picknick" an verdutzten ungarischen Grenzschützern vorbei nach Österreich. Am 10. September öffnete Ungarn dann offiziell die Grenze, zwei Monate später fiel in Berlin die Mauer.

Ungarns Grenzzaun zu Serbien ist ein Symbol für die Abschottung Europas gegen Flüchtlinge

Der damalige deutsche Kanzler Helmut Kohl hat noch im selben Jahr den Ungarn dafür gedankt, "den ersten Stein aus der Mauer geschlagen" zu haben. Im Wald bei Sopron, an historischer Stelle, erinnert heute ein Gedenkstein an die Vorgänge des 27. Juni.

Der seit 2010 in Budapest regierende Ministerpräsident Viktor Orbán zeigt allerdings wenig Interesse daran, die positive Rolle der Reformkommunisten bei der Grenzöffnung allzu sehr hervorzuheben. Die Rechtspopulisten rekurrieren lieber aufs Paneuropa-Picknick, das auf ungarischer Seite von oppositionellen Aktivisten unterstützt wurde, die heute zum Teil bei der Fidesz-Partei gelandet sind.

30 Jahre nach dem Zaunfall zu Sopron und dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks gehört Ungarn heute zur Nato und zur EU, doch die von Orbán propagierte "illiberale Demokratie" trägt zunehmend autokratische Züge. Auch ein neuer Zaun ist wieder entstanden, nun an Ungarns Grenze zu Serbien. Er ist kein Symbol für die Teilung Europas, sondern eins für die Abschottung Europas gegen Flüchtlinge. Neue Zeiten, neue Zäune.

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Quelle:
SZ vom 27.06.2019
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