Süddeutsche Zeitung

Kairo:Der ägyptische Patient

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Der Journalist Peter Hessler erklärt den Arabischen Frühling und sein Scheitern mit der Jahrtausende alten Landesgeschichte. Seine zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendelnde Erzählung ist eine Wucht.

Von Wolfgang Freund

Peter Hessler verspricht eine Archäologie des Ägyptischen Frühlings. Sein Buch beginnt mit Ausgrabungen im oberägyptischen Abydos aus der Zeit von 2500 bis 3000 v. Chr. Die genannte Wissenschaft berichtet in der Regel vom Suchen und Graben nach Steinen, die uns eine ferne, häufig Jahrtausende alte Vergangenheit näherbringen, jedoch wenig aussagen über unser Heute. Doch der US-Journalist Hessler macht "Spagatsprünge" zwischen Altertum und Gegenwart.

Aus der Sicht des Erdkundlers ist Ägypten eine einzige Wüste gigantischen Ausmaßes, durchzogen von einem über 1000 Kilometer langen "Lebensstreifen", genannt "Niltal"; seit Jahrtausenden ist die landwirtschaftlich notwendige Wasserverteilung eine Besonderheit, die dem ägyptischen "System" bis heute sowohl Überleben als auch Traditionen und technische Starrheiten sichert. Darum blieb in Ägypten der politische Aggregatzustand zwischen Herrscher und Beherrschten im Wesentlichen derselbe, sprich: Letztere in Millionenhöhe (ganz unten) malochen für die wenigen "ganz oben" (vielleicht ein paar Hunderttausend oder auch eine Million). Es gab neue Entwicklungen, vor allem seit Napoleons Ägyptenexpedition Ende des 18. Jahrhunderts. Sie hielten an, mit Höhen und Tiefen, bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus. Dann, unter den "Neo-Pharaonen" Gamal Abdel Nasser (1954 - 1970), Anwar al-Sadat (1970 - 1981) und Hosni Mubarak (1981 - 2011) regenerierten sich die "historischen" Machtverhältnisse, wenn auch zeitgemäßer. Der jüngste Arabische Frühling brachte keinen Wandel, brach spätestens seit 2014 in sich zusammen, als nach kurzem einjährigen "demokratorischen" Zwischenspiel, General Abdel Fattah al-Sisi die Macht an sich gerissen hatte. Peter Hessler wollte verstehen, warum.

Hessler und seine Ehefrau lebten von 2011 bis 2016 in der ehemaligen "Schickeria"-Ecke des modernen Kairos auf der Nil-insel Zamalek, noch fast in Gehdistanz zum ereignisreichen Tahrir-Platz, um die aufbrechenden Umstürze entlang des Arabischen Frühlings erleben und analysieren zu können. In Kairo angekommen taten sie das Richtige. Sie lernten schnellstens genügend Arabisch und zwar außer dem Schriftarabischen auch jenes Dialektarabisch, wie es auf Kairos Straßen gesprochen wird, unerlässlich für das nähere Verstehen von Kairos bzw. Ägyptens "Seele". Hauptstadt und Land überlappen sich am Nil. Beide heißen Misr auf Arabisch. Und Misr ist für die Menschen des Niltals Umm Ed-Dunya, d. h. "Mutter der Welt". Wenn man den historischen Verlauf von monotheistisch gefärbtem Sonnengottglauben (1350 v. Chr.), Judentum, Christentum und Islam betrachtet, wird solches "Volksempfinden" fast verstehbar.

Das Gegenwärtige entschlüsselt der Buchautor außer seinen Trips kreuz und quer durch Kairo und Reisen zwischen Unter- und Oberägypten weitgehend aus nahezu täglichem Umgang mit ägyptischen Gewährsleuten. Davon gibt es herausragend drei. Da sind ein Arabischlehrer sozialistischer Gesinnung, sodann der Hesslers Küchenabfälle entsorgende, analphabetische Müllsammler Sayyid, sowie Manu, ein Schwuler der Kairoer "Szene". Manu hatte kein leichtes Leben, obwohl in der "Kosmo-Monstropole Kairo" (heute etwa 25 Millionen Menschen) Homosexuelle bislang eher unbehelligt blieben, sie besaßen in Downtown ihre Nachtklubs und Bars. Doch unter dem "post-revolutionären" Sisi-Regime hat sich das geändert, obwohl Homosexualität als solche im ägyptischen Strafrecht nicht geahndet wird. Schwule beiderlei Geschlechts sind nun "Staatsgefährder", gleich nach islamistischen Terroristen. Pervers flackerndes jüngstes Beispiel: der Selbstmord der LGBT-Aktivistin Sarah Hegazy in Toronto, die vor ihrem Zwangsexil drei Monate lang in Kairoer Schreckensverliesen auf die abscheulichste Art erniedrigt und gefoltert worden war. Sie entstammte einer großbürgerlichen Kairoer Familie, die unter Präsident Sadat sogar 1974/1975 kurzzeitig einen Premierminister (Abdel Aziz Mohamed Hegazy) gestellt hatte. Peter Hesslers "Gewährsmann" Manu übrigens fand vor wenigen Jahren politisches Asyl in Deutschland.

Der Stil erinnert an den des bekannten Romanautors Alaa al-Aswani

Der Autor erzählt die Lebensläufe seiner Gewährsleute in Kapitelfolgen, die sich gemischt durch das ganze Buch ziehen, verblüffend ähnlich dem Vorgehen des international erfolgreichen, in viele Sprachen übersetzten Kairoer Romanautors Alaa al-Aswani ("Der Automobilclub von Kairo", S. Fischer, 2015, u. a.). Peter Hessler hat al-Aswanis Bücher bestimmt gelesen, zumal deren englische Übersetzungen weitgehend vom Verlag der AUC (American University in Cairo) betreut worden waren. Peter Hessler hatte dorthin vielfachen Kontakt. In seinem durchaus themabezogenen Literaturverzeichnis erscheint Alaa al-Aswani jedoch nicht.

Unterbelichtet bleibt bei Hessler auch die etwa 150 Jahre lange Epoche des modernen Ägyptens (Anfang des 19. Jahrhundert bis zum Sturz der Farouk-Monarchie 1952) in ihrer französisch und jüdisch geprägten Natur. Französisch war während gut hundert Jahren die wichtigste Verkehrssprache des urbanen Ägyptens, also in den großen Städten wie Kairo, Alexandria, Port Saïd, Ismailya am Suezkanal, in Suez selbst, keineswegs Englisch. Auch die nichtarabischen Presseerzeugnisse waren mehrheitlich französischsprachig. Erst der franko-britisch-israelische "Suezkrieg" von 1956 bereitete Ägyptens Frankophonie ein schnelles Ende, da deren Hauptbenutzer, die Vertreter der jüdischen Geschäftswelt, innerhalb weniger Jahre nahezu vollständig des Landes verwiesen wurden. Selbst die kurze britische Kolonialverwaltung (1882 - 1922) hatte streckenweise auf Französisch gearbeitet. Englisch hingegen konnte sich halten, da die USA am Suezkrieg nicht "beteiligt" waren und es bislang immer verstanden hatten, mit Ägypten trotz bestimmter Querelen in Sachen Israel in einem "konstruktiven" Verhältnis zu bleiben.

Aber trotz solcher Kritik am Rande: Das grundgescheite Buch ist eine Wucht. Peter Hessler gelingt es, den Verlauf einer vieltausendjährigen ägyptischen Geschichte dem Leser lebendig zu schildern, in einem zwischen Vergangenheit und Gegenwart pendelnden Erzählungsstil, aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer und Andreas Thomsen brillant ins Deutsche gewendet. Allerdings dürften US-Pressestimmen, die empfehlen, Peter Hesslers "Stimmen vom Nil" gehörten ins Gepäck jedes Ägyptenbesuchers, übertreiben. In den vollen Genuss der Hesslerschen Aroma-Palette kommt nur ein Leser, der selbst ägyptische Intensiverfahrungen hat und bei der Vielzahl genannter Namen und städtischer wie landesweiter Örtlichkeiten sofort die passenden Aha-Blitze in sich aufleuchten fühlt. Für ihn ist das Buch eine unauslotbare Fundgrube und Quelle für weiteres Nachdenken zum Thema.

Der gegenwärtig in Kairo amtierende "Neo-Pharao", eine Art wiederauferstandener Ramses II., mit seinen Monsterprojekten wie "Neu-Kairo" aus dem Wüstensand, "zweiter Suez-Kanal" oder auch "Einflussnahmen" Richtung Libyen, gibt dazu reichlich Anlass. Auf der letzten Seite angekommen, bedauert der Leser tief, nunmehr auf die Gesellschaft des Autors verzichten zu müssen.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Lebt heute in Südfrankreich.

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SZ vom 24.08.2020
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