Süddeutsche Zeitung

Kishida in Kiew:Ein ferner Krieg so nah

Lesezeit: 2 min

Warum der japanische Premierminister ausgerechnet jetzt die ukrainische Hauptstadt besucht - und was das mit China zu tun hat.

Von Thomas Hahn, Tokio

Es gibt in Japan also doch noch Geheimnisse. Das ist eine Erkenntnis, die Premierminister Fumio Kishida am Dienstag mitgenommen haben dürfte von seiner Reise in die Ukraine zu Präsident Wolodimir Selenskij. Es war sicher nicht die wichtigste Visite in Kiew. Aber bemerkenswert war es doch, wie sein Regierungsstab den Besuch im Kriegsland an den eigenen Zweifeln vorbei organisierte. "Die Hürden sind hoch", hatte der stellvertretende Kabinettschefsekretär Seiji Kihara noch Ende Februar auf die Frage gesagt, ob Kishida der Einladung Selenskijs vom Januar folgen würde. Die Ukraine sei weit weg, die Sicherheitslage schwierig und Japan nicht gut darin, Staatsbesuche geheim zu halten, weil vorher immer das Parlament zu informieren sei.

Die Überraschung war deshalb groß, als das Außenministerium in Tokio am Dienstagmorgen plötzlich meldete: Kishida in Kiew. Er werde Selenskij gegenüber "seinen Respekt für den Mut und das Durchhaltevermögen der ukrainischen Menschen ausdrücken" und "Russlands Aggression resolut ablehnen".

Fumio Kishida reiste am Dienstag früher als angekündigt von seinem Staatsbesuch in Indien ab. Er flog mit einem Charterflugzeug nach Polen. Dort bestieg er in der Grenzstadt Przemyśl einen Zug nach Kiew - so wie das im Februar auch US-Präsident Joe Biden getan hatte. Umständlich, aber Kishidas Ukraine-Visite musste sein. Japan hat dieses Jahr den G-7-Vorsitz inne. Kishida war bisher der einzige Regierungschef aus der Gruppe der sieben wirtschaftsstärksten Demokratien, der noch nicht bei Selenskij war. Und beim G-7-Gipfel vom 19. bis 21. Mai in Hiroshima wird die Ukraine ein beherrschendes Thema sein. Da sollte man die Lage im Land vorher schon mal persönlich erlebt haben. Selbst die Opposition hatte Verständnis dafür, dass Kishida das Parlament ausnahmsweise nicht über seine Reisepläne aufgeklärt hatte.

"Ostasien könnte die nächste Ukraine sein."

Der Besuch passt aber auch zu Kishidas Haltung im Ukraine-Konflikt. Von Anfang an trug er die G-7-Positionen mit und unterstützte die Ukraine, so gut es ging, im Rahmen der pazifistischen Verfassung Japans. Selbstverständlich ist das nicht, denn Russland ist Japan sehr nah. Im Nordosten trennen beide Nationen nur ein paar Kilometer Meer, weil Russland seit dem Zweiten Weltkrieg die südlichen Kurilen besetzt hält. Der frühere Premier Shinzo Abe traf sich oft mit Wladimir Putin, um die Inseln zurückzubekommen. Manche Abe-Anhänger dürften Kishidas Haltung deshalb kritisch sehen. Der aber bleibt standhaft, erst recht seit Putins Atombombendrohungen. Kishida stammt aus Hiroshima, der Stadt, die 1945 von der ersten je abgeworfenen Atombombe verwüstet wurde. Er steht zu seiner Vision von einer Welt ohne Nuklearwaffen.

Dazu kommt, dass Kishida den Krieg in der Ukraine als Mahnung für die Region um Japan sieht. Zuletzt sagte er: "Als ich den Versuch sah, einseitig den Status quo mit Gewalt zu verändern, dachte ich, Ostasien könnte die nächste Ukraine sein." Kishida nannte keine Namen. Aber es war klar, was er meinte. Sollte China seine vermeintlichen Ansprüche auf Taiwan durchsetzen wollen, käme der Krieg in Japans Nachbarschaft. Da passt es vielleicht ganz gut, dass der Abstecher nach Kiew ausgerechnet mit dem Besuch des chinesischen Präsidenten in Moskau zusammenfällt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5772892
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.