Süddeutsche Zeitung

Italien:Hausarrest für einen Engagierten

Lesezeit: 2 min

Von Oliver Meiler, Rom

In Riace nennen sie ihn "Mimmo u curdu", Mimmo der Kurde. Liebevoll und mit Ironie. Domenico "Mimmo" Lucano, Bürgermeister der kleinen Stadt an einem Hügel über der ionischen Küste Kalabriens, 60 Jahre alt, ist kein Kurde, er ist Kalabrese. Doch seine Geschichte begann einst mit einem Boot kurdischer Flüchtlinge, die in Riace eine neue Heimat fanden. 1998 war das, es sollten viele weitere Zuwanderer folgen. Alle harmonisch integriert, zur Freude und zur Bereicherung aller. Dank Lucano. Der Papst sagte einmal, er bewundere den Bürgermeister für sein Werk. Das Magazin Fortune setzte Lucano auf seine Liste der 50 einflussreichsten Menschen der Welt. Riace mit seinen 2300 Einwohnern, von denen 600 Einwanderer sind, wurde auch von ausländischen Medien als Modell für eine gelungene Integration gefeiert, unbedingt imitierwürdig.

Nun ist "Mimmo u curdu" verhaftet worden. Im Morgengrauen, wie ein Mafioso. In der Anklageschrift heißt es, Lucano habe sich der Begünstigung der illegalen Einwanderung schuldig gemacht. Er soll bei der Schließung von Scheinehen geholfen haben, die Familiennachzüge ermöglichten. Vorgeworfen wird ihm auch, dass er die Abfallentsorgung in Riace ohne Ausschreibung an zwei Kooperativen vergab, die mit Migranten arbeiteten. Fast noch wichtiger als diese Vorwürfe ist aber eine andere Erkenntnis aus den Ermittlungen: Es gibt keine Indizien dafür, dass Lucano staatliche Gelder unterschlagen hat. Lucano nahm nichts für sich, keinen Cent.

Dass er nun dennoch unter Hausarrest steht, spaltet die italienische Öffentlichkeit. Über allem schwebt der Verdacht, Lucano sei ein Opfer des neuen politischen Windes, der da durch Italien zieht, steif und kalt. In den sozialen Medien formt sich eine Solidaritätswelle mit dem Hashtag: #iostoconmimmo, ich stehe hinter Mimmo. Der wortgewaltigste Exponent dieses Lagers ist Schriftsteller Roberto Saviano, der Autor des Bestsellers "Gomorrha". In einem Video sagt Saviano, die Festnahme Lucanos sei ein weiterer Beweis dafür, dass sich Italien unter der neuen Regierung in ein "autoritäres Regime" verwandle. Innenminister Matteo Salvini schlachte diese Ermittlungen politisch aus.

Noch bevor Savianos Video online war, hatte Salvini bereits getwittert: "Donnerwetter, was sagen jetzt wohl Saviano und all die Gutmenschen, die Italien gerne mit Immigranten vollstopfen würden?" Vor einigen Monaten hatte er den Bürgermeister von Riace einmal eine "totale Null" genannt. Aus dem rechten Lager gab es auch Kritik an der staatlichen Fernsehanstalt Rai, die gerade eine Dokufiktion über den Modellfall Riace dreht.

Als er nach Riace zurückkehrte, war das Dorf fast ganz verwaist

Die Kurden damals, 1998, waren 184. Sie stammten aus dem Irak, aus Syrien und der Türkei. Lucano nahm elf von ihnen auf. Das Schicksal der Migranten bewegte ihn, weil er selber lange weg gewesen war. Als er nach Riace zurückkehrte, war das Dorf fast ganz verwaist. Die Trattorie schlossen, die Läden, sogar die Schule. Viele Riacesi waren ausgewandert, nach Australien, Argentinien und Kanada vor allem. Ihre Häuser standen leer. Als Lucano 2004 Bürgermeister wurde, rief er die Weggezogenen an und fragte, ob sie bereit wären, ihre feuchten, zerfallenden Häuser den Einwanderern zu überlassen. Alle sagten Ja.

So besiedelte Lucano sein verlassenes Dorf neu. Der Staat versprach Geld für die Instandsetzung der Häuser. Lucano sorgte dafür, dass die Einwanderer arbeiteten, Berufslehren absolvierten, Läden eröffneten. Sie erhielten dafür eine Art Lohn und Gutscheine für den Einkauf von Lebensmitteln an ausgewählten Orten. So entstanden Ateliers für Schneider und Töpfer, eine Kinderkrippe, eine Bäckerei, ein Mülltransport mit zwei Eseln. Und die Bevölkerungen, die einheimische und die zugewanderte, wuchsen zusammen.

Die Betagten des Dorfes, deren Enkel weit weggezogen waren, kümmerten sich fortan auch mal um die Kleinen der Immigranten aus Afghanistan, Irak, Syrien, Eritrea, Äthiopien. "Wir haben den Migranten Würde gegeben", sagte Lucano einmal, "und uns selbst Reichtum." Gerechtigkeit sei ihm wichtiger als Gesetze. Riace ist wiedergeboren, wundersam. Und sein Wiedergeburtshelfer steht unter Hausarrest.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4154521
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.10.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.