Süddeutsche Zeitung

Italien:Ein bisschen mehr Gefühl

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Ganz vorsichtig erlaubt die Regierung in Rom, dass sich die Menschen wieder näherkommen. Von einem normalen Alltag ist das Land aber noch weit entfernt.

Von Oliver Meiler

Halbfreiheit, allerhöchstens. In Italien beginnt "Fase due", Phase zwei, doch die Köpfe stecken noch in der "Fase uno" fest. Gefangen in der Sorge, dass die vage Zuversicht auf Besserung schnell wieder verpufft. Kein Land Europas traf Corona früher und heftiger als Italien. 29 000 Menschenleben hat das Virus bisher gefordert, offiziell. Wahrscheinlich sind es aber sehr viele mehr. Die Kurve ist flach geworden, endlich fällt auch die Zahl der Todesopfer. Doch wenn an diesem 4. Mai einige Lockerungen des harten Lockdowns einsetzen, ist es, als traue das Land selbst seinem vorsichtigen Mut nicht wirklich.

Etwa 4,5 Millionen italienische Arbeiter kehren zurück an die Arbeit. In die Fabriken der exportstarken Möbel-, Mode- und Autoindustrie. Auf die Gemüsefelder, die Baustellen, in die Großmärkte. Alle diese Bereiche der Wirtschaft öffnen wieder, jeder mit einem genau definierten Set von Auflagen. Die Unternehmer werfen Premier Giuseppe Conte vor, er sei zu zögerlich. Doch der sagt, man habe ihm wissenschaftliche Szenarien unterbreitet, die ihn zu dieser Vorsicht bewegt hätten. Für mehr sei es leider zu früh. "Wir sind mitten drin in der Krise der Pandemie."

Ein bisschen etwas passiert aber schon. Im neuen Dekret der Regierung, das bis 18. Mai gilt, steht, dass die Italiener nach fast zwei Monaten daheim öfter raus dürfen, allerdings brauchen sie immer noch ein klares Motiv. Weil Bewegung gut ist, dürfen sie Sport im Freien machen und sich weiter von zu Hause entfernen. Bisher joggte man ums Haus, mehr war nicht drin. Jetzt darf man sogar ans Meer und an der Küste entlanglaufen. Nicht alle Strände sind offen, in der Romagna und in Ostia bei Rom etwa bleiben sie geschlossen. In diesen vorsommerlichen Frühlingstagen würden sie sich rasch füllen.

Jogging am Meer ist aber nur denen vergönnt, deren Regionen am Meer liegen. Die Wohnregion darf man ohne besondere Bewilligung weiterhin nicht verlassen, und das hat einen guten Grund. Covid-19 hat das Land in drei geteilt. Der Norden ist stark von der Seuche betroffen, das Zentrum nicht so sehr, der Süden zum Glück nur schwach. Alle Vorsicht dient dem Zweck, den Damm nicht leichtfertig zu gefährden. Eine Ausnahme macht man für die Studenten aus Süditalien, die im Norden leben: Sie dürfen zurück in die Heimat, müssen da aber zunächst in Quarantäne.

Auch Radfahren geht wieder, das wird sogar sehr empfohlen - für den Arbeitsweg. In vielen Städten im flachen Teil des Nordens gehört das Fahrrad zum Alltag, überall sonst aber eher nicht. Ein Kulturwandel im Süden wäre ein Segen. Weil der öffentliche Verkehr um 75 Prozent reduziert wird, damit alle Sicherheitsprotokolle erfüllt werden können, wird wohl bald der Individualverkehr mit Autos und Motorrädern stark ansteigen - und mit ihm die Umweltbelastung.

Viel Verwirrung stiftete Conte, als er bei der Vorstellung seines neuen Dekrets sagte, dass es nun wieder möglich sei, sich mit einem "congiunto" zu treffen. Das ist ein selten gebrauchtes und schwammiges italienisches Wort für Verwandte und Anverwandte, für den Familienkreis im engen und auch etwas weiteren Sinn. Tagelang rätselten die Italiener, an wen Conte da wohl alles gedacht haben könnte. Nun erließ das Amt des Ministerpräsidenten eine Liste jener "congiunti", mit denen man sich einzeln und mit Schutzmaske treffen darf. Dazu gehören Ehepartner, von denen man gerade getrennt lebt, unverheiratete und feste Lebenspartner, Paare in Zivilpartnerschaften, Verwandte bis zum sechsten Grad (also zum Beispiel die Kinder von Cousins untereinander) und Anverwandte bis zum vierten Grad (etwa Cousins des Gatten oder der Gattin) sowie Personen, wie es heißt, "zu denen man stabile Gefühlsbande" unterhält.

Diese letztgenannte Kategorie, zu der intuitiv natürlich Verlobte und Verliebte gehören, gab am meisten zu reden. Die zentrale Frage lautete: Sind auch gute Freundschaften stabile Gefühlsbeziehungen? Nun, für die italienische Regierung sind sie das nicht, und das ist zumindest eine erstaunliche Erkenntnis. Aber ganz so wichtig ist die Differenzierung vielleicht nicht, denn die Geschichte hat eine barocke Pointe: Auf dem Formular, das man vor dem Besuch eines "congiunto" ausfüllen muss, darf dessen Name nicht stehen - aus rechtlichen Gründen, die Privatsphäre gehöre geschützt. Bei einer allfälligen Kontrolle muss der Polizist den Angaben des Besuchenden einfach glauben.

Die Medien waren am Sonntag voll mit solchen praktischen Hinweisen zur Rückkehr zu einer sehr relativen Normalität. Der Mailänder Corriere della Sera widmete den Neuerungen zehn Seiten, was mehr der Konfusion geschuldet ist als der Fülle an Klarheiten. Bars und Restaurants dürfen nun Take-away anbieten, essen darf man die Pizzen und Gelati aber nicht einmal in der Nähe der Lokale. Die Schulen werden erst im September wieder öffnen und auch dann wohl ganz anders, als man es kennt. Die Bildungsministerin erklärte, es werde dann nur Halbklassen im Rotationsbetrieb geben: Mal ist die eine Hälfte der Schüler in der Schule, während die andere daheim per Computer an den Lektionen teilnimmt, dann umgekehrt. Die Aufregung ist jetzt schon groß. Wahrscheinlich braucht es dann auch da noch viele Präzisierungen der Regierung in Rom.

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SZ vom 04.05.2020
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