Süddeutsche Zeitung

Italien:Rückkehr eines Verbannten

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Von Oliver Meiler, Rom

Vom Helden zum Unhold - und wieder zurück? Domenico "Mimmo" Lucano erlebt ein Wechselbad der Gefühle, wie er es selber beschreibt. "Ich bin zum Objekt eines großen Zirkus geworden", sagt er. Seit einem halben Jahr darf Lucano, 60 Jahre alt, nicht mehr daheim leben, in seinem Riace, einem Dorf in Kalabrien, tiefster Süden Italiens. Er war Bürgermeister des Orts, der zum Modellfall einer gelungenen Integration von Einwanderern geworden war - gefeiert in Italien, gelobt in der ganzen Welt. Im vergangenen Herbst aber kam im Morgengrauen die Steuerpolizei und verhaftete Mimmo Lucano, als wäre er ein zweitklassiger Mafioso.

Es hieß, Lucano habe die illegale Einwanderung begünstigt, habe Scheinehen arrangiert zwischen Immigranten und Einheimischen. Und dann habe er auch noch die Müllabfuhr an zwei Kooperativen vergeben, an L'Aquilone und Ecoriace, ohne den Auftrag vorab ausgeschrieben zu haben. Er kam vorübergehend unter Hausarrest, vom Amt wurde er suspendiert. Vor allem aber: Lucano durfte den Boden seines Dorfes nicht mehr betreten. "Sie haben mir das Gesicht gestohlen", sagt Lucano jetzt. "Sie haben meine Familie ruiniert."

Er meint nicht nur die Staatsanwaltschaft von Locri, welche die Anklagepunkte formuliert hatte. Sondern auch die nationale Politik, allen voran Matteo Salvini, den Innenminister Italiens, und dessen Hetze, das ganze Klima des Hasses. Nach der Verhaftung frotzelte Salvini über die Gutmenschen, die sich angeblich nicht um die Gesetze des Landes scherten. Er hatte Lucano davor schon einmal eine "totale Null" genannt. Die Weltsichten der beiden könnten nicht weiter auseinanderliegen. Ihr Streit verkam schnell zum Glaubenskrieg zweier Denkschulen.

Bevor das politische Klima in Italien radikal wechselte, war Riace ein vorbildliches, kopierwürdiges Dorf

Lucano ging in Berufung gegen das Aufenthaltsverbot, und zwar bis zum höchsten Gericht. Nun hat der Kassationshof in Rom beschieden, dass es keine Indizien dafür gebe, dass Lucano die Müllabfuhr betrügerisch an die beiden Kooperativen vergeben habe. Der Entscheid sei kollegial gefällt worden, in der Gemeindeverwaltung, völlig regelkonform. Das hohe Gericht erinnerte bei der Gelegenheit daran, dass die Kooperativen benachteiligten Menschen einen Job geben und dass sie mit einem Esel von Haustür zu Haustür gehen.

Auch für den Vorwurf, er habe Scheinehen organisiert, gebe es keine Beweise. Lucano habe höchstens seiner eigenen Frau geholfen, einer Äthiopierin, in Italien zu bleiben. Doch das habe er aus "emotionalen Gründen" getan. Ein System, eine Methode? Dafür gebe es keinen Hinweis. Lucano erinnert nun auch daran, dass seine Frau die Staatsbürgerschaft einst direkt vom Staatspräsidenten erhalten habe, per Dekret. Denn ja, bevor das politische Klima in Italien radikal wechselte, war Riace ein vorbildliches, kopierwürdiges Dorf gewesen. Lucano schaffte es, den verlassenen und perspektivlosen Ort mit einer gescheiten Integration neu zu beleben.

Riace war eines jener Dörfer des Südens, die über die Jahrzehnte viele ihrer Söhne und Töchter wegziehen sahen. Weit weg, nach Amerika und Australien. Alles schloss: Bars, Restaurants, Werkstätten, Läden. Auch Lucano war eine Weile weg gewesen. 2004 wurde er Bürgermeister, und er öffnete das Herz Riaces. Bald waren von den 2300 Einwohnern ein Viertel Einwanderer. Statt ihnen die 35 Euro Tagesgeld des Staates zu verteilen, schenkte er ihnen die Möglichkeit zu arbeiten, Näh- und Töpfer-Ateliers zu eröffnen, eine Bar, eine Trattoria, eine Kinderkrippe, eine Sprachschule, einen Biogarten. Es gab Bons für den Supermarkt. Die Emigrierten, jeden Einzelnen, fragte Lucano, ob die Zuwanderer ihre verlassenen Häuser bewohnen und renovieren dürften, mit Geld der Europäischen Union und der Region Kalabrien. Alle sagten zu.

Und nun? In den kommenden Tagen soll das Gericht von Reggio Calabria darüber entscheiden, ob das Verfahren gegen Mimmo Lucano definitiv eingestellt wird, ob er wieder daheim leben darf, in Riace. Rehabilitiert ist er schon mal, von allerhöchster Stelle.

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Quelle:
SZ vom 04.04.2019
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