Süddeutsche Zeitung

Integrationsgipfel:Der Sarrazin-Schock wirkt noch nach

Migranten beklagen auf dem Integrationsgipfel eine Atmosphäre der Angst - Kanzlerin Merkel versucht zu beschwichtigen.

Roland Preuß und Susanne Klaiber, Berlin

Marie-Elisabeth Brouwers sieht es praktisch: Von Zeit zu Zeit brauche es einen Gipfel bei der Kanzlerin, um das Thema Integration in den Medien zu halten. "So bleibt es im Gespräch", sagt die Vorsitzende des Deutschen Frauenrates. Das immerhin habe auch Thilo Sarrazin mit seinen Thesen bewirkt: Er habe sich zwar im Ton vergriffen, aber der Debatte einen Schub gegeben. Brouwers sagt's und entschwindet zu den anderen rund 120 Teilnehmern, die Angela Merkel und ihre Integrationsbeauftragte Maria Böhmer zum vierten Integrationsgipfel ins Kanzleramt geladen haben.

Die Debatte um angeblich anpassungsunfähige Muslime und Integrationsverweigerer überschattet dieses Treffen, wie sollte es anders sein. Es ist die Woche neun der jüngsten Integrationsdebatte, ausgelöst durch die islamfeindlichen Thesen des Berliner Ex-Finanzsenators, befeuert vom bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer und von vielen anderen.

Viele Migranten empfinden diesen Schub anders als Brouwers: Er macht ihnen Angst. Kenan Kolat, der Vorsitzende des großen Dachverbandes Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD), bringt dies auch in der großen Runde zum Ausdruck. Behauptungen, die früher als Randerscheinungen abgetan worden seien, kämen nun aus der "Mitte der Gesellschaft", schreibt er in einem offenen Brief, der von mehr als 600 Unterstützern, meist Deutsch-Türken, unterzeichnet ist.

"Wir fühlen uns durch die derzeitige Diskussion diskreditiert", schreibt Kolat und warnt davor, dass sich wiederholen könnte, was Anfang der neunziger Jahre geschah: Damals führte eine aufgeheizte Debatte um die Einschränkung des Asylrechts zu Brandanschlägen auf türkische Familien, am Ende zu mehr als hundert rassistisch motivierten Morden.

Die Atmosphäre ist also aufgeheizt. Und an diesem Tag im Kanzleramt ist zu spüren: Merkel und Böhmer wollen beiden Seiten gerecht werden. Sie wollen Härte signalisieren gegenüber den Integrationsunwilligen - vor allem, um jene in den Unionsparteien zufrieden zu stellen, die ohnehin glauben, dass man den Migranten schon viel zu weit entgegengekommen ist. Sie möchten aber auch den Migranten die Hände reichen, ganz nach dem Motto: Wir helfen Euch doch.

Im Vorfeld des Treffens hat Angela Merkel noch gesagt, Multikulti sei gescheitert; Maria Böhmer hat sich der Analyse angeschlossen. Weil aber heute der Integrationsgipfel ist, steht die Unterstützung im Vordergrund, manchmal gar die Selbstkritik: "Wir haben sicher noch eine Menge Nachholbedarf, auch auf der Bundesebene", sagt Merkel, als sie gefragt wird, warum es nicht mehr Migranten im öffentlichen Dienst gibt.

Viel Neues hat Böhmer nicht zu bieten, sie ist längst bei der Umsetzung der Integrationspolitik angelangt, bei den mühsamen, aber notwendigen kleinen Schritten. Bund, Länder, Kommunen und Migrantenorganisationen hatten sich schon 2007 beim zweiten Integrationsgipfel auf insgesamt 400 Selbstverpflichtungen geeinigt, die Euphorie war damals so groß wie die Skepsis, ob dies alles umsetzbar sei.

Diesmal präsentiert Böhmer durchaus eindrucksvolle Bilanzzahlen: Fast 700.000 Zuwanderer haben seit 2005 an einem Integrationskurs teilgenommen, die meisten von ihnen freiwillig, zwei Drittel davon Frauen. Insgesamt hat die Bundesregierung dafür knapp eine Milliarde Euro ausgegeben. Bis 2015 sollen alle Interessenten diesen Kurs auch gemacht haben: "Wir haben dann nachgeholt, was 30 Jahre lang in Deutschland nicht geschehen ist," sagt die Kanzlerin dazu, und ein bisschen historische Bedeutung weht durch den Raum.

Anfang 2011 sollen mehrere Städte und Gemeinden erstmals sogenannte Integrationsvereinbarungen erproben. Wie in einem Vertrag soll dort festgehalten werden, wer den Migranten helfen soll, in der neuen Heimat Fuß zu fassen, aber auch "was unser Land von ihnen erwartet", wie Böhmer sagt. Die Pädagogik-Professorin will diese Verträge durch Überzeugungsarbeit umsetzen, ohne neue Strafen. Es sei auch "unverzichtbar", dass Deutschland attraktiver werde für "kluge Köpfe aus aller Welt", merkt sie an.

"Wir brauchen Deutschland, Deutschland braucht aber auch uns"

Ein solches Willkommen wünschen sich die am Tisch der Kanzlerin versammleten Migranten, die am Ende des Tages das Treffen höchst unterschiedlich bewerten: "Man hat heute uns gegenüber eine große Sensibilität gezeigt," erklärt erfreut Bekir Alboge, der Dialogbeauftragte des türkisch-halbstaatlichen Moscheevereins Ditib.

Kenan Kolat dagegen, der Autor des Brandbriefes, erhielt zwar von Angela Merkel Lob für sein Engagement, trotzdem bleibt er unzufrieden: "Es gab überhaupt keine Diskussion, wir haben Monologe gehört. Wir müssen in Zukunft andere Formen finden." Immerhin aber gebe es jetzt den nötigen Dialog: "Wir brauchen Deutschland, Deutschland braucht aber auch uns", sagt er.

Und dass er hoffe, dass die Mehrheit der Deutschen dies trotz Sarrazin genauso sehe.

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SZ vom 04.11.2010/odg
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