Süddeutsche Zeitung

Integration:Suche nach der Perspektive

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Junge Flüchtlinge leiden unter der Trennung von ihrer Familie und den Erfahrungen, die hinter ihnen liegen. Das überfordert in Deutschland viele Betreuer.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Die Zahl minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland nimmt ab, von ihren Schwierigkeiten kann man das nicht unbedingt sagen. Es fehlt an Therapieplätzen, Elternnachzug gelingt nur in Ausnahmefällen, und auch Fachkräfte müssen noch besser geschult werden. Das zeigt der erste Bericht zur Situation unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher, der am Mittwoch im Kabinett vorgelegt wurde. Demnach kümmerten sich die Jugendämter Anfang Februar um 43 840 allein geflüchtete Kinder und Jugendliche. Ein Jahr zuvor waren es noch 60 638, also wesentlich mehr. Viele, die minderjährig nach Deutschland kamen, sind inzwischen junge Erwachsene. Hier verdreifachte sich die Zahl zwischen November 2015 und Februar 2017 von knapp 6 400 auf 18 214.

"Kinder und Jugendliche, die allein nach Deutschland geflüchtet sind und hier auf sich selbst gestellt sind, gehören zur schutzbedürftigsten Personengruppe überhaupt", sagte Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) nach der Vorlage des Berichts. Das 2015 eingeführte Verfahren, wonach unbegleitete junge Flüchtlinge auf alle Bundesländer verteilt werden, funktioniere "im Wesentlichen gut". Trotz großen Engagements der Betreuer aber gebe es "natürlich Probleme".

Der Gesundheitszustand Minderjähriger, die allein die Flucht nach Europa angetreten haben, sei durch "fluchtbedingte extreme Belastungen" gekennzeichnet, heißt es in dem Bericht. Gemeint sind da nicht nur Löcher in Zähnen. "Junge Flüchtlinge weisen allgemein eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Störungen auf", heißt es. Sie stellten "eine besonders vulnerable Gruppe" dar, weil ihnen der Schutz der Familie fehlte. Das Risiko, sexuell missbraucht oder ausgenutzt zu werden, ist vergleichsweise hoch. Medizinische und psychologische Fachkräfte sowie freiwillige Helfer müssten besser geschult werden, um Probleme erkennen und für Hilfe sorgen zu können, heißt es in dem Bericht.

Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) stellte in ihrem jüngsten Versorgungsbericht fest, dass im Schnitt 21 Prozent der Therapiepatienten in ihren Zentren minderjährig sind. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge machen dort aber nur sieben Prozent der Patienten aus. Trotz erheblicher Belastungen gelingt es ihnen also deutlich seltener, zu einer Therapie zu kommen. Es fehlen Plätze, die Wartezeiten sind lang, sagt Jenny Baron, Psychologin der BAfF. Das staatliche Gesundheitssystem trage auch nur acht Prozent der Therapiekosten für Geflüchtete, ob minderjährig oder nicht. "Da ist noch ein großer Ausbaubedarf."

Doch auch wer gesund ist, kämpft oft mit Bürokratie. "Es gibt kein bundesweit geregeltes Verfahren, wie die Jugendlichen zu Verwandten in Deutschland kommen", sagt Tobias Klaus vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF). "In vielen Fällen klappt das zeitnah nicht." Gerade Großstädte wie Berlin oder Hamburg, in die besonders viele junge Flüchtlinge wollen, seien nicht bereit, über die staatliche Quote hinaus noch Jugendliche aufzunehmen, deren Verwandte in der Stadt lebten.

Noch schwieriger ist Familiennachzug aus dem Ausland. Viele unbegleitete junge Flüchtlinge wünschen sich Nachzug enger Verwandter. Von 2156 unbegleiteten jungen Syrern, die 2016 hier subsidiären Schutz erhielten, stellten laut Bundesregierung aber nur zehn einen Härtefall-Antrag auf Familiennachzug. Kein einziger Antrag wurde bisher bewilligt. Jugendliche halten die Enttäuschung ihrer Angehörigen oft schlecht aus und kappen den Kontakt zur Familie, berichten Helfer. Oft kämen Schulden bei Schleppern hinzu. "Es ist klar, dass wir den Jugendlichen dringend eine Perspektive im System verschaffen müssen", sagt BumF-Mitarbeiter Klaus. Die Integration solcher Jugendlicher liege im Interesse aller.

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Quelle:
SZ vom 16.03.2017
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