Süddeutsche Zeitung

Indien:Eingesperrt ins Gästehaus

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Die Tochter von Kaschmirs früherer Premierministerin kämpft für ihre Mutter: Indien hat die Region unter Blockade gesetzt - und hält die Politikerin fest.

Von Arne Perras, Delhi

Eine Villa, versteckt hinter Bäumen. Die junge Frau empfängt im ersten Stock. Iltija Mufti stammt aus Kaschmir und kämpft für die Freilassung ihrer Mutter. Der Fall Mufti ist ein Politikum in Indien, aber auch ein sehr persönliches Drama. Es erzählt von Recht und Unrecht, Macht und Ohnmacht in Kaschmir, einem Gebiet, das Indien vor den Augen der Welt abschottet und eisern kontrolliert. Iltija Mufti ist in zwei Welten zu Hause, sie pendelt zwischen der Stadt Srinagar in Kaschmir und Delhi. Aber mit Reportern reden, das gehe nur hier, sagt sie, nahe der indischen Hauptstadt, im Haus von Freunden.

Warme Sonnenstrahlen fluten durch die Fenster, doch die 32-Jährige hat sich einen Schal umgeworfen. Sie wirkt fast verloren in dem riesigen Raum. Der Gast darf auf den Sessel, Iltija Mufti wählt das Sofa gegenüber. Vier Meter Distanz, das ist mehr als höflich, fast entrückt. Eine Haushälterin reicht Kekse und Kewa Chai, Tee mit Safran und Ingwer, so trinken sie ihn in den Bergen, der Heimat der Familie Mufti.

Die junge Frau erzählt nun von der Haft ihrer Mutter, sie spricht flüssig, aber ihre Stimme klingt gereizt. Mehbooba Mufti war die letzte Ministerpräsidentin des halbautonomen Staates Jammu und Kaschmir, der zu Indien gehört. Nun lebt sie eingesperrt in einem Gästehaus der Regierung. "Ich war dabei, als sie im August verhaftet wurde. Meine Mutter packte rasch ein paar Kleider in einen Handgepäckskoffer, wie man es für ein, zwei Tage tut." Aber dann kam sie nicht mehr heraus. Und nicht mal engste Angehörige durften in den ersten Wochen zu ihr. "Sie wollten, dass meine Mutter den emotionalen Stress spürt", sagt die Tochter. Die Isolation, die Ungewissheit.

Mufti teilt dieses Schicksal mit weiteren Politikern Kaschmirs. Ihre Unfreiheit ist Symbol einer Krise, von der Indien eigentlich nichts wissen will. Delhi behauptet, dass in Kaschmir alles in normalen Bahnen laufe. Es sind Sätze, die Iltija Mufti als absurd bezeichnet. "Nichts ist normal in Kaschmir. Es gibt bei uns diesen Witz: Kaschmir hat eine reiche Fauna und Flora, aber nichts wächst so gut wie die Rollen aus Stacheldraht." Es sind dies die augenfälligsten Symbole einer Militärmacht, die im Sommer eine drakonische Blockade über mehr als acht Millionen Menschen verhängte.

Tausende kamen in Haft, ohne Anklage und Verfahren, es gab Ausgangssperren, das Internet wurde abgeschaltet. Inzwischen sind manche Beschränkungen gelockert. "Aber selbst jene, die offiziell entlassen wurden, können sich nicht frei bewegen", sagt Iltija Mufti. Internet? Da muss sie lachen, nur handverlesene Webseiten sind freigeschaltet, und mobile Datenverbindungen gibt maximal mit dem veralteten Standard 2G. Soziale Medien bleiben geblockt. "Jedes Mal, wenn ich in Kaschmir bin, habe ich das Gefühl zu ersticken", sagt Iltija Mufti.

Kaschmir liegt eingeklemmt zwischen Indien, Pakistan und China, das Gebiet ist nach zwei Kriegen geteilt. Jeder der rivalisierenden Staaten kontrolliert nur einen Teil des einstigen Fürstentums, dessen Maharadscha beim Abzug der Briten für Indien optierte. In Kaschmir, das überwiegend muslimisch bevölkert ist, kollidieren die Interessen von Atommächten mit dem kaschmirischen Streben nach Eigenständigkeit, ein kompliziertes und explosives Gemisch. Im August hatte Indien den Status quo einseitig und drastisch verändert: Delhi entzog Kaschmir den Sonderstatus, das Gebiet verlor über Nacht autonome Rechte. Und die Politikerin Mufti verlor abrupt ihre Freiheit, obgleich sie keines Verbrechens überführt worden war.

"Präventivhaft" heißt das. Die erste Phase nach "Section 107" des Strafrechtskatalogs dauerte ein halbes Jahr, nun muss Mufti damit rechnen, dass sie noch viel länger eingesperrt bleibt. Der Staat hat den Public Safety Act (PSA) gegen sie in Stellung gebracht, der sie weitere zwei Jahre die Freiheit kosten kann, ohne Prozess. Begründet wird der Schritt mit einem Dossier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Iltija Mufti glaubt, dass dieses Papier in Delhi diktiert wurde, der Mutter wird darin vorgeworfen, sie habe Hetze und Gewalt provoziert, sei eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. "Aber wo sind die Belege?", fragt Iltija Mufti. Auch wundert sie sich über sexistische Passagen, etwa den Vorwurf, Mehbooba sei "Daddy's Girl", mal ist vermerkt, dass ihre Ehe ja nur kurz gehalten habe.

Mehbooba Mufti gehört einem Politiker-Clan an, schon ihr Vater war Ministerpräsident von Kaschmir, außerdem der einzige muslimische Innenminister, den Indiens Zentralregierung je hatte. Aber was hat "Papas Mädchen" in einem Haftdossier zu bedeuten? Man fragt einen Verfassungsrechtler, Sanjay Hegde. "Dabei könnte es sich um juristisch irrelevante Passagen handeln", sagt er. Womöglich verfolgten solche Formulierungen andere Zwecke, dazu könne er sich nicht äußern. Iltija Mufti hat keinen Zweifel, was die Sätze beabsichtigen: "Sie sollen meine Mutter erniedrigen und beleidigen."

Darin liegt Ironie, denn es war Mehbooba Mufti, die wie ihr Vater eine schwierige Koalition mit den nun in Delhi regierenden Hindu-Nationalisten eingegangen war, um Kaschmir zu regieren. Und jetzt sperren sie Mufti ein? "Bei meiner Mutter erzeugte das ein Gefühl des Verrats", sagt die Tochter.

Hat sie eine Chance? "Es müssen schon Gründe für Präventivhaft vorgebracht werden, die nicht so lange zurückliegen", sagt Jurist Hegde. Mufti könnte also die Gerichte anrufen. "Wir prüfen alle Optionen", sagt die Tochter. Gleichwohl hat sie wenig Vertrauen in die Justiz, seitdem das Urteil zum Pilgerort Ayodyha fiel. Hindus dürfen dort nun einen Tempel errichten, wo einst ein fanatischer Mob eine Moschee zerstörte. Mufti sieht darin ein Zeichen, wie sehr sich die Justiz dem Druck der Hindu-Eiferer beugt.

Ein Ende der Haft für Mufti ist vorerst nicht absehbar. "Meine Mutter liest jetzt viel", sagt die Tochter. Historische Romane, den Koran, Nelson Mandela. "Wir scherzen darüber sogar, weil sie früher nie gerne las." Das immerhin ist ein Vorteil der Haft. Der Humor aber kann die Last, die Mutter und Tochter niederdrückt, kaum beseitigen. Iltija spürt eine lähmende Ohnmacht. "An manchen Tagen will ich gar nicht aufstehen", sagt sie, auch wenn sie jetzt die Chance hat, ihre Mutter regelmäßig in Srinagar zu besuchen.

Das war anfangs noch anders. Da blieb nur, winzige Briefchen in Fladenbroten zu verstecken, wenn sie der Mutter Essen schickten. Die Oma hatte die Idee, das so zu schmuggeln. Und es ist geglückt.

Wovor aber hat Delhi Angst? "Sie fürchten, dass sich unsere politischen Führer kritisch über den Entzug der Autonomie äußern und die Leute das als Aufruf zum Protest betrachten." Protest aber darf es nicht geben, weil Delhi möchte, dass alles normal aussieht. "Sie tolerieren keinen Widerspruch", sagt Iltija Mufti.

Einst hat die junge Frau an Indien als pluralistisches Land geglaubt - jetzt nicht mehr. Aber auch Pakistan habe keine gute Rolle gespielt, der Nachbar habe die Krise ausgenutzt, manchmal verschärft.

Viele rätseln, mit welchen Kräften Delhi Kaschmir fortan regieren will. "Man kann neue Führungsfiguren ja nicht einfach aus der Luft greifen", sagt Mufti. Wer immer bereit sei, jetzt mit Delhi noch zu kooperieren, werde seine Glaubwürdigkeit in Kaschmir verspielen. "Ich weiß noch, wie viel Feindseligkeit meiner Mutter entgegenschlug, als sie mit der BJP eine Allianz einging." Mehbooba Mufti wäre vielleicht wieder frei, hätte sie sich dem Diktat aus Delhi gebeugt. "Sie wollten, dass meine Mutter eine Verpflichtung unterzeichnet, den Entzug der Autonomie nicht zu kritisieren." Das hat sie verweigert. Und ihre Tochter wirkt, bei allem Schmerz, froh darüber. "Warum sollen wir nicht sagen können, was wir denken? Ist dies eine Demokratie oder leben wir in einer Bananenrepublik?" In jedem Fall ist Indien ein Staat, dessen Regierung so tut, als sei in Kaschmir alles in Ordnung. Dass andere Länder, etwa in Europa, das kaum zu beschäftigen scheint, überrascht Mufti nicht. "Die Europäer scheinen sich schon entschieden zu haben. Indien als Markt ist ihnen wichtiger als die Achtung der Menschenrechte."

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Quelle:
SZ vom 22.02.2020
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