Süddeutsche Zeitung

Indien:Bedrohter Aufbruch

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Seine Bilanz als Reformer ist eher schwach, dennoch steht die Partei Modis drei Jahre nach dem Wahlsieg glänzend da. Indiens Premier hat die Zuversicht der Hindu-Mehrheit gestärkt, Minderheiten hingegen verängstigt.

Von Arne Perras, Singapur

In Zeiten lahmender Weltwirt-schaft richten sich viele Hoffnungen auf Indien. Wann kommt der Aufbruch auf dem Subkontinent? Oder hat er schon begonnen? Unter den großen Volkswirtschaften verzeichnet der südasiatische Riese die höchsten Wachstumsraten, sie lagen in den vergangenen Jahren zwischen sechs und acht Prozent. Doch herrscht keine Einigkeit darüber, ob das Bild vom Sprung des indischen Tigers geeignet ist, um die Entwicklungen zu beschreiben. Die Zeit-schrift Economist versuchte es kürzlich mit einem springenden Papiertiger, der vom Premier geritten wird. Der Titel: "Modis Indien. Illusion der Reform."

Man konnte daraus schließen, dass das Blatt keine Hymne auf die ersten drei Regierungsjahre von Narendra Modi singen würde. Tatsächlich ging das Magazin mit dem Premier hart ins Gericht. Modi sei viel weniger Reformer, als es den Anschein habe. Stattdessen nannte der Economist ihn einen "nationalistischen Hitzkopf", der dabei sei, die "goldene Chance" der Entwicklung zu verspielen. In Indien sorgten die Einschätzungen für einige Aufregung.

Mit einer Bargeldreform wollte Modi die Mafia kaltstellen - aber sie schwächte auch Unternehmen

Auch in Delhi fragen sich die Analysten: Hat Modi Indien vorangebracht oder zählt er eher zu jenen, die viel versprechen und wenig halten? "Ein wenig unfair und zu hart" sei die Kritik, schrieb die Onlinezeitung Firstpost, die sonst nicht im Verdacht steht, Modi zu sanft anzufassen. Der Kolumnist empfahl, die Inder sollten die Analyse trotz übertriebener Schärfe prüfen. Die Regierung müsse bereit sein, eigene Versäumnisse und Fehler zu benennen.

Während über Modis Reformfähigkeiten heftig gestritten wird, zeigen Umfragen, dass der Premier populär geblieben ist. Mehr als 61 Prozent von 40 000 Befragten in nahezu 200 Städten gaben im Mai an, dass Modi ihren Erwartungen entsprochen habe oder sie noch übertraf. Das ist insofern verblüffend, als er gerade eine Bargeldreform durchpeitschte, die Millionen Inder hart getroffen hat, besonders mittlere und untere Schichten. Der Wert der Aktion ist hochumstritten, zuletzt setzte sich bei Experten eher die Einschätzung durch, dass der Schaden den Nutzen überwiegt. Modis Lager hatte von einem "Geniestreich" gesprochen, der die Schwarzgeldmafia hart treffe - doch dies ist schwer zu belegen. Sicher ist, dass der rabiate Bargeldentzug die Wirtschaft geschwächt und das Wachstum gedrosselt hat. Kleinere Unternehmen müssen kämpfen, um sich von dem monetären Blitzschlag zu erholen.

Der regierenden "Bharatiya Janata Party" (BJP) ist es dennoch gelungen, ihren Einfluss auszubauen, sie hat Wahlen im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh und weitere regionale Abstimmungen gewonnen. "Die BJP ist auf dem Höhepunkt ihrer Macht", bilanzierte der I ndian Express zum Ende des dritten Jahres der Modi-Regierung. Doch die BJP-Strategen seien noch nicht zufrieden, sie wollten ihren Fußabdruck noch weiter verbreiten.

Das wirft die Frage auf: Sind es geglückte Reformen, die Modis Popularität sichern? Oder ist es doch eher die ideologische Ausrichtung der Partei BJP, die es ihr ermöglicht, den Hüter des Hinduismus zu geben? Zu beobachten war anfangs, wie Modi mit Elan daran ging, Veränderungen anzustoßen. Sie reichen von Bankkonten für die Armen, Versicherungen für Farmer, Kampagnen für ein sauberes Indien, Digitalisierung, Werben um Auslandsinvestitionen bis hin zu einer aktiveren Außenpolitik, die darauf zielt, die südasiatische Region stärker zu vernetzen. Dennoch: Vom großen Wurf sprechen indische Analysten kaum. Weil viele Initiativen festgefahren sind oder nur schleppend vorankommen. Am deutlichsten erkennbar werden die Defizite beim Versprechen, Jobs zu schaffen. Während die BJP 2014 versicherte, sie werde den Trend des "joblosen Wachstums" unter der Vorgängerregierung umkehren, ist davon nur wenig zu spüren. Ei-ne Auswertung von Daten des Arbeitsministeriums zeigte für 2016 vielmehr, dass der "Zuwachs an Beschäftigung immer noch stockt." Dies muss Modi beunruhigen. Wenn Millionen junge Inder keine Arbeit finden, schürt das breiten Frust.

Ein weiteres Beispiel ist die Reinigung des vergifteten Ganges. An Modis Willen, den für Hindus heiligen Strom zu retten, herrscht wenig Zweifel. Doch die Umsetzung hakt, verkrustete Bürokratie und Wirtschaftsinteressen bremsen das Vorhaben aus, sie zeigen, wie wenig der Premier in manchen Bereichen ausrichten kann.

Anderseits hat die satte Mehrheit der BJP zumindest eine Reform ermöglicht, die in Indien lang verschleppt wurde: die einheitliche Mehrwertsteuer. Nun ist dies kein Thema, mit dem sich indische Herzen wärmen lassen. Und Kritiker klagen, dass mangelnde Vorbereitungen die Unternehmen in Nöte stürzen könnten. Dennoch gilt der Schritt - sobald die Umstellungsprobleme bewältigt sind - als Meilenstein beim Umbau der Wirtschaft. Analysten rechnen mit einem deutlichen Schub fürs Wachstum. Und Modi kann reklamieren, dass er und kein anderer die Hürde nahm.

Modi verurteilt zwar Gewalt von Hindus gegen Minderheiten - oft aber extrem zögerlich

Die möglichen positiven Effekte werden die Inder wohl erst in einigen Jahren spüren, die Wahlen zur Zentralregierung stehen aber bereits 2019 an. Modi möchte weitermachen. Er hat sich mit seiner Partei, wie ein Kommentator im Indian Express anmerkt, als "Champion der Mehrheit" etabliert und setzt auf den "Wohlfühlfaktor" unter den Hindus, die 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Analysten erwarten, dass die Regierung versuchen wird, sich stärker als Anwalt der Bauern zu präsentieren, um die Massen zu mobilisieren.

Modis Kritiker betonen aber, dass die ideologische Ausrichtung der BJP als Wächter über die Werte der Hindu-Mehrheit den indischen Pluralismus bedrohe. Ihre Dominanz erzeuge eine Stimmung, in der religiöse Diskriminierung hoffähig werde. Sie beobachten, dass sich Intoleranz breitmacht und in Gewalt umschlägt. So häuften sich seit dem Wahlsieg der BJP Lynchmorde an Muslimen. Oft reicht ein Gerücht, dass jemand Kühe geschlachtet oder deren Fleisch gegessen habe, um den Mob selbsternannter Kuhwächter zu entfesseln. Sie jagen Menschen, um die Schändung der als heilig verehrten Tiere zu rächen. Modi hat solchen Terror im Namen der Kuh verurteilt. Doch er hat es nur zögerlich getan, so dass seine Mahnung Eiferer kaum beeindruckt haben dürfte. Der Historiker Sanjay Subrahmanyam sagt, dass diese Formen der Gewalt starken symbolischen, manchmal gar rituellen Charakter hätten. Um Angst zu verbreiten und bestimmte Normen zu erzwingen, etwa den von Hindus eingeforderte Schutz der Kuh. Nach seiner Einschätzung ignorieren der Zentralstaat und einige Bundesstaaten die Gewalt. "Natürlich untergräbt das den Rechtsstaat," klagt der Historiker.

Gleichzeitig steigen Spannungen, wenn Terroristen Hindu-Pilger töten, wie kürzlich in Kaschmir. Die Extremisten, deren Paten Indien in Pakistan wähnt, wollen Hass zwischen den Religionen säen.

Für Irritation bei liberalen Indern und den Minderheiten sorgte unterdessen die Entscheidung der BJP, einen umstrittenen Hindu-Geistlichen in Uttar Pradesh zum Ministerpräsidenten zu machen. Adityanath kündigte an, er werde Uttar Pradesh in einen Hindustaat verwandeln. Den Bollywood-Star Shah Ruk Khan verglich er mit einem pakistanischen Terroristen, Minderheiten nennt er "die andere Seite" und droht: "Wenn die andere Seite nicht den Frieden wahrt, dann werden wir sie lehren, den Frieden zu wahren."

So hat Modi zwar die Zuversicht der Hindu-Mehrheit gestärkt, aber auch Minderheiten verängstigt. Es ist offenkundig, dass das große Versprechen von der "Entwicklung für alle", mit dem Modi 2014 den Wahlkampf bestritt, unvereinbar ist mit einer intoleranten Agenda hindu-nationalistischer Hardliner. Diese Kräfte aber fühlen sich durch die Siegesserie der BJP ermuntert. Sie verehren den Premier und erwarten, dass er hinter ihnen steht.

Modis Kritiker drängen ihn derweil, radikale Kräfte in ihre Schranken zu weisen, sonst könne er kaum als großer Reformer überzeugen. Der Economist geht noch einen Schritt weiter. Er spricht davon, dass Modi Spannungen zwischen den religiösen Gruppen schüren könnte, um seine Popularität unter der Hindu-Mehrheit zu erhalten, falls die Wirtschaft ins Taumeln gerät. Modi hat nun zwei Jahre Zeit, um zu zeigen, dass er solchen Versuchungen wiederstehen und Eiferer zügeln kann. Denn es ist offenkundig: Ein indischer Aufbruch kann ohne inneren Frieden nicht gelingen.

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SZ vom 09.08.2017
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