Süddeutsche Zeitung

KZ Treblinka:Vom unbedingten Willen zu überleben

Lesezeit: 3 min

Der Journalist Michał Wójcik erzählt vom Aufstand der jüdischen Häftlinge im deutschen Vernichtungslager Treblinka im August 1943.

Rezension von Stephan Lehnstaedt

Der Aufstand der jüdischen Häftlinge im Vernichtungslager Treblinka am 2. August 1943 ist eine der großen Heldengeschichten des Holocaust. An diesem unwirklichen Ort 80 Kilometer nordöstlich von Warschau ermordeten die Deutschen in etwas mehr als einem Jahr annähernd 900 000 Menschen, nicht zuletzt diejenigen aus dem von ihnen eingerichteten Ghetto in der polnischen Hauptstadt.

Anders als Auschwitz war Treblinka ein reines Vernichtungslager: Es gab keine Selektionen und keine planmäßige Zwangsarbeit. Gebraucht wurden nur einige Hundert Jüdinnen und Juden, die für die Täter die Leichen verscharren und die geraubten Gegenstände sortierten mussten. Und selbst das bedeutete für sie nur Überleben auf Zeit, denn die Wachmannschaften tauschten ihre Sklaven immer wieder aus - neue fanden sie in den Deportationszügen, die alten schickten sie in die Gaskammern.

Ein Ausbruch aus dem gut gesicherten Lager war kaum möglich, Widerstand erschien angesichts der schwerbewaffneten Mörder nahezu unmöglich. Und doch gab es viele Planungen, die allerdings bis zu jenem Sommertag 1943 alle von den Deutschen durchkreuzt worden waren.

Als besonders schwierig erwies sich die Koordination, denn um die Geheimhaltung nicht zu gefährden, mussten die Organisatoren den Kreis der Mitwisser klein halten. Letztlich waren vor allem die Funktionshäftlinge aktiv.

Sie schafften Messer und Äxte zur Seite; der Schlosser Eugeniusz Turowski fertigte einen Nachschlüssel für die Waffenkammer der SS an, aus der kurz vor der Erhebung unauffällig Pistolen und Gewehre verschwanden; nicht zuletzt nahm man größere Mengen an Geld und Wertgegenständen aus dem Raubgut, um auf der Flucht überleben zu können.

Trotzdem blieb vieles Improvisation. Als die Häftlinge auf den Zaun losliefen, eröffneten die Wachen das Feuer, es kam zu Schusswechseln, Holzbaracken brannten, Menschen starben. Etwa hundert Insassen blieben in Treblinka, weil sie zu überrascht, zu geschwächt oder zu stark bewacht waren.

Der Großteil der Flüchtenden fiel im Kugelhagel der Wachmänner. Trotzdem entkamen schätzungsweise 250 der 800 Häftlinge. Es war, neben dem Aufstand in der Todesfabrik Sobibór zwei Monate später, der einzige erfolgreiche Massenausbruch aus einem Vernichtungslager.

Umso erstaunlicher, dass bislang höchstens Historikerinnen und Historikern darüber berichteten. Anders als in Sobibór, wo inzwischen sogar zwei Spielfilme die Geschichte zeigen, ist das Geschehen in Treblinka einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt.

Umso mehr ist es zu begrüßen, dass es nun eine erste Erzählung davon gibt. Die historische Reportage des Journalisten Michał Wójcik wurde 2015 bei ihrem Erscheinen in Polen mehrfach ausgezeichnet und besticht durch ihre detaillierten Schilderungen aus Häftlingsperspektive: Einige der insgesamt kaum 100 Insassen, die tatsächlich das Kriegsende erlebten, haben Erinnerungen hinterlassen, etwa Chil Rajchman oder Samuel Willenberg. Ihre Worte machen das Grauen des Massenmords und den Terror der Deutschen lebendig.

Ebenso empathisch wie umfangreich breitet Wójcik diesen tagtäglichen Horror aus. Das ist die eigentliche Stärke des Buches, denn der Aufstand - so spektakulär er war - lässt sich mangels Quellen schlicht nicht mehr minutiös rekonstruieren. Vielmehr geht es um die Atmosphäre, um die Empfindungen der Juden und wenigen Jüdinnen. Das geht unter die Haut und zeigt das Ausgeliefertsein, die Hilflosigkeit, aber auch das Bedürfnis, trotz allem zu überleben.

Viel weniger als die Psychologie der Opfer gelingt es jedoch, die der Täter einzufangen. Sie geraten holzschnittartig und bleiben weit hinter dem zurück, was wir heute über die Männer der "Aktion Reinhardt", dieser größten Mordaktion innerhalb des Holocaust, wissen.

Materialgrundlage: nur polnische Veröffentlichungen

Wójcik hat weder die neuere deutsche Täterforschung noch gar die Ermittlungsakten der bundesrepublikanischen Justiz herangezogen. Er erhebt allerdings auch keinen wissenschaftlichen Anspruch und verzichtet durchgängig auf Belege. Seine Materialgrundlage sind polnische Veröffentlichungen, die summarisch am Ende des Buches in deutscher Übersetzung genannt werden.

Neben dem Denkmal für die Helden von Treblinka ist Politik das Hauptanliegen des Buches: Es dekonstruiert auf vielen Seiten den Mythos einer Teilnahme des polnischen Widerstands am Aufstand.

Das freilich ist eine Legende, die selbst in Polen nur in rechtskonservativen Kreisen geglaubt wird und die hierzulande sowieso niemand kennen dürfte.

Allerdings versteht sich Wójcik als Kämpfer gegen das Narrativ der heldenhaften polnischen Nation, die mit ganzem Herzen ihren jüdischen Mitbürgern geholfen habe. Und obwohl es gute Gründe gibt, diese Erzählung kritisch zu hinterfragen, bedürfte es dann doch wieder mehr als nur einiger Hinweise, um dies einer deutschen Leserschaft nahezubringen.

Was in Polen preiswürdig sein mag, ist auf dieser Seite der Oder nicht automatisch selbsterklärend.

Stephan Lehnstaedt ist Historiker und Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien am Touro College Berlin.

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SZ vom 03.08.2020
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