Süddeutsche Zeitung

Grundrente:Trinkgeld hilft im Alter nicht

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Vor allem Beschäftigte des Niedriglohnsektors haben niedrige Renten. Wie Gewerkschaften versuchen, sie zur Mitgliedschaft zu bewegen.

Interview von Annette Zoch, München

Das ganze Leben gearbeitet - und im Alter arm? Von diesem Schicksal sind in Deutschland vor allem Beschäftigte des Niedriglohnsektors betroffen - zum Beispiel im Friseurhandwerk, im Einzelhandel oder in der Gastronomie. Meist sind es Frauen, meist sind sie befristet beschäftigt, meist arbeiten sie in kleinen Betrieben. Auch für diese Leute ist die Grundrente gedacht, die in dieser Woche von den Koalitionsspitzen beschlossen wurde. Häufig sind diese Beschäftigten auch nicht in einer Gewerkschaft. Deshalb versuchen die Gewerkschaften verstärkt, an diese Menschen heranzukommen. Denn je mehr in einer Branche gewerkschaftlich organisiert sind, desto höher sind die Tarife. Ein Gespräch mit Christoph Schink von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG):

SZ: Herr Schink, warum haben so viele Beschäftigte in der Gastronomie am Ende ihres Berufslebens so wenig Rente?

Christoph Schink: Zum einen hat die Branche ein Problem mit Schwarzarbeit. Ein zweiter wichtiger Punkt in der Gastronomie ist aber: Die Menschen verschätzen sich bei der Rolle, die das Trinkgeld spielt. Viele Beschäftigte akzeptieren einen niedrigen Grundlohn und lassen sich vom Chef mit dem Trinkgeld ködern. Und beim Renteneintritt merken sie dann: Das Trinkgeld hat leider nichts in die Rentenkasse eingezahlt.

Die Branche ist unübersichtlich.

Und regional sehr unterschiedlich. Wir haben in Deutschland in der Gastronomie mehr als 200 000 Betriebe. In 80 Prozent davon arbeiten weniger als zehn Personen, der überwiegende Teil ist übrigens weiblich. In Bayern und Hessen sieht es mit Flächentarifen, Urlaubs- und Weihnachtsgeldregelungen sehr gut aus. Anderswo, in Mecklenburg-Vorpommern oder Rheinland-Pfalz, eher nicht so.

Und wie kommen Sie als Gewerkschaft dann an diese Betriebe ran?

Wir kommen immer dann ganz gut weiter, wenn es uns gelingt, Betriebsräte zu etablieren. In der Systemgastronomie oder Hotellerie zum Beispiel. Oder nehmen Sie den Süßwarenhersteller Ferrero: Die haben 4000 Beschäftigte, wenn ich da eine Betriebsversammlung mache, erreiche ich einen Großteil der Leute. Aber wir müssen auch in den Landgasthof und in die Eckkneipe. Da müssen wir uns ein bisschen was anderes einfallen lassen.

Was denn?

Wir nutzen zum Beispiel soziale Netzwerke. Oder wir haben Visitenkärtchen drucken lassen "Danke für den tollen Service" und hintendrauf steht, wer wir sind und was wir wollen. Die Kärtchen können wir Servicekräften in Restaurants und Gaststätten in die Hand drücken oder auf dem Tisch liegen lassen. Oder wir machen Touren durch Bäckerei-Filialen. Klar gibt es auch manchmal Probleme mit den Arbeitgebern: Gestern erst sind wir aus einer McDonalds-Filiale rausgeflogen.

Die Kampfbereitschaft in der Gastronomie ist nicht so hoch wie zum Beispiel in der Metallindustrie. Woran liegt das?

Es ist so: In der Gastronomie arbeiten Menschen mit dem Gastgeber-Gen. Die intrinsische Motivation ist unglaublich hoch. Das Problembewusstsein, was die eigenen Arbeitnehmerrechte angeht, aber nicht. Ein Industriearbeiter würde es nicht so leicht hinnehmen, wenn er Stunde um Stunde länger arbeiten muss. Aber wenn die Reisegruppe drei Stunden zu spät am Landgasthof ankommt, erwartet der Chef eine Extraschicht und alle schauen, dass sie die Leute noch verköstigt bekommen. Die Struktur mit vielen Kleinstbetrieben macht es auch nicht leichter.

Inwiefern?

In Kleinstbetrieben verwischen schnell die Grenzen zwischen Chef und Kumpel, Kollege und Freund. Der soziale Druck ist höher und wenn der eine länger bleibt, bleibt der andere halt auch. Die Leidensfähigkeit der Beschäftigten ist überdurchschnittlich hoch. Nur irgendwann leidet die eigene Gesundheit und dann wird der Krankenstand in Restaurants und Hotels höher und höher. In Berufsschulen werden wir sogar oft von Lehrern gerufen.

Wieso das?

Weil die Lehrer sagen: Meine Azubis werden in 14-Stunden-Schichten im Service verheizt und lernen nichts, bitte kommt mal und erklärt denen ihre Rechte. Die Branche hat sich ihr Fachkräfteproblem auch selbst erarbeitet.

Wie hoch ist der Mitgliedsbeitrag bei der NGG? Als Beschäftigter im Niedriglohnsektor muss man ja sparen, wo es geht.

Der Mitgliedsbeitrag beträgt ein Prozent vom monatlichen Brutto. Wir leben hier das Solidarprinzip und alle zahlen individuell, die Ansprüche aus der Mitgliedschaft sind aber für alle gleich. Dort, wo wir bereits gute Tarifverträge haben, ist der Beitrag höher. So zahlt ein Facharbeiter in den Münchner Brauereien vielleicht 35 Euro monatlich, jemand der gerade im Fast-Food-Bereich anfängt 16. Bei Teilzeit auch weniger. SchülerInnen und Studierende zahlen 2,60 Euro und Rentner 5,50 Euro.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2019
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