Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Johnson ruft Abgeordnete ins Parlament

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In den vergangenen Wochen durften die Parlamentarier von zu Hause aus via Internet debattieren und aus der Ferne abstimmen. Nun sollten sie wieder physisch anwesend sein.

Von Cathrin Kahlweit, London

Wenn alle Mitglieder des britischen Parlaments zum Dienst antreten, dann sind die Lobbyräume, die für die Aye (Ja)- und die No (Nein)-Stimmen reserviert sind, bei Abstimmungen so voll wie eine beliebte Kneipe am Freitagabend. Die Gänge sind jeweils nur 3,50 Meter breit, an physischen Abstand in Corona-Zeiten ist da nicht zu denken. In den vergangenen Wochen bereitete das niemandem im Unterhaus Kopfschmerzen; die Parlamentarier durften von zu Hause aus via Internet debattieren und aus der Ferne abstimmen.

Viele wichtige Entscheidungen wurden ohnehin nicht getroffen; Gesprächsthema unter den Abgeordneten waren eher Privatkleidung und Einrichtungsgegenstände der Kollegen, die bei dieser Gelegenheit besichtigt werden konnten. Boris Johnson selbst hatte sich zuletzt höchst selten im Parlament sehen lassen; er war lange mit Covid-19 krank gewesen - und ein leeres Unterhaus ohne Gejohle und unterstützenden Beifall liegt dem britischen Premier sowieso nicht sonderlich.

Nun hat Parlamentsminister Jacob Rees-Mogg dekretiert, dass über die Fragen, welche die Nation bewegen, nur mitreden darf, wer physisch im Unterhaus anwesend ist. Nur ein Bruchteil der Parlamentarier soll dabei jeweils gleichzeitig im berühmten Saal mit den grünen Lederbänken sitzen, damit es nicht zu eng wird. In einem Artikel für das Parlamentsmagazin The House erklärte Rees-Mogg, die Kontrolle der Regierung funktioniere einfach besser, wenn alle da seien, und "Kompromisse" wie zu Hoch-Zeiten von Corona seien nun nicht mehr notwendig.

Eine endlos lange "Supermarktschlange"

Am Dienstag sollten alle Members of Parliament wieder antreten - und auch über das eine oder andere Gesetz abstimmen. Aber wie dabei Distanz halten in den division lobbies für die Ja- und Neinsager? Der Minister gab vor, dass eine lange Schlange zu bilden sei. Bei 650 Männern und Frauen, das war leicht auszurechnen, würde sich eine solche Schlange quer durch die zentrale Lobby bis in die historische Eingangshalle ziehen und bis zu einem Kilometer lang sein.

Umgehend gab es heftigen Protest: Man werde sich nicht in eine endlos lange "Supermarktschlange" einreihen. Und auch demokratiepolitisch gab es Widerstand: Abgeordnete, die wegen Krankheit oder Alter zu Corona-Risikogruppen zählen, weigern sich, persönlich anzutreten, finden aber andererseits, man dürfe ihnen bei begründeter Abwesenheit nicht de facto das Stimmrecht aberkennen.

Offene Briefe wurden geschrieben, die Vorsitzenden mehrerer Parlamentskomitees lehnten sich auf. Parlamentssprecher Lindsey Hoyle, der Nachfolger des legendär unterhaltsamen John Bercow, bekundete schmallippig, er bedauere, dass eine Einigung zwischen Regierung und Opposition in der Frage physischer Anwesenheit nicht zustande gekommen sei. Es war leicht zu erkennen, dass auch er die neuen Regeln nicht okay findet.

Am Dienstagnachmittag erklärte Rees-Mogg mit näselnder Stimme, er sei zu einem Kompromiss bereit: Wer wolle, könne von daheim teilnehmen - aber nicht abstimmen. Danach waren das erste Votum angesetzt - über den Streitpunkt "virtual commons". Das Schlangestehen dauerte knapp 50 Minuten. Der Vorschlag wurde angenommen. Aber die Zahl der Abweichler war sehr hoch.

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SZ vom 03.06.2020
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